Das Manifest für den Frieden, initiiert von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, hast fast eine halbe Million Unterschriften (Stand: 16.02.2023) und ist damit natürlich politisch relevant. Es möchte Leben retten und qua Verhandlungen zu Frieden führen, was natürlich ehrenwert ist. Jedoch ist der Aufruf logisch inkonsistent und in seinen politischen Konsequenzen verheerend. Davon handelt dieser Artikel.
Das Manifest beginnt mit der Benennung von Opferzahlen, sowohl militärischen als auch zivilen, und den Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Es wird hierbei jedoch unterschlagen, worin für all das die Kausalität liegt: bei der russischen Führung, bei Präsident Putin. Es wird explizit geschrieben: „Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert“. Aber es wird partout nicht gesagt, wer die Täter dessen sind: russische Soldaten. Eine Nichtbenennung von Tätern ist auch eine implizite Form der Parteilichkeit.
Es wird in diesem Manifest explizit gesagt: „Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität“. Dem ist nichts hinzuzufügen, das stimmt. Aber es wird eben nicht die notwendige politisch-intellektuelle Konsequenz gezogen: wenn es ein brutaler Überfall ist (und das ist er zweifellos) braucht die Ukraine die Mittel, um sich dagegen zu wehren, und diese Mittel sind eben (schwere) Waffen. Hier liegt die erste logische Inkonsistenz des Aufrufes.
Es wird dann geschrieben: „Präsident Selenskyj macht aus seinem Ziel kein Geheimnis. Nach den zugesagten Panzern fordert er jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen“. Diese rhetorische Suggestion ist politisch infam. Denn es geht nicht darum, russisches Territorium zu besetzen, sondern die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen. Das aber ist etwas ganz anderes, und ein Verteidigungskrieg ist völkerrechtlich absolut legitim. Jedoch werden die Kriegsziele Putins an keiner Stelle erwähnt, auch nicht, dass er der Ukraine mehrfach die Existenzberechtigung abgesprochen hat. Hier zeigt sich die erneute implizite Parteilichkeit dieses Aufrufes, der konsequenziell natürlich der russischen Propaganda in die Hände spielt.
Danach heißt es: „Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt.“. Ja, das ist zu befürchten. Aber es ist kein Definitivum. Und es wird ja im Artikel geschrieben, dass schon viele rote Linien überschritten wurden. Dennoch gab es keinen maximalen Gegenschlag. Schlimm ist jedoch die Konsequenz dieser Kausalität: wenn jemand mit dem maximalen Gegenschlag droht, so muss man zurückweichen, und im Zweifel eben auch eine Bevölkerung und ein Land opfern. Sollte diese Position Schule machen, wäre dies eine unglaubliche Ermutigung für die verschiedenen Gewaltherrscher und Diktatoren dieser Welt, und es ist genau deshalb auch so politisch verheerend.
Danach wird auf die Lage des Krieges eingegangen: Es heißt „Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen. Das sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. Er spricht von einer Pattsituation“. Was hier geschieht, ist erst eine dogmatische Setzung und zweitens ein induktiver Fehlschluss. Eine dogmatische Setzung, weil einfach behauptet wird, die Ukraine könne nicht gewinnen. Jedoch hat der Vietnam gegen die USA und Afghanistan gegen die Sowjetunion gewonnen. Atommächte sind konventionell besiegbar, und Russland wurde in seiner Vergangenheit auch schon öfter militärisch geschlagen. Zudem hat die Ukraine in diesem Krieg sehr viel mehr zurückerobert an Territorium, als die Russen noch halten. Es ist also eine dogmatische Setzung ohne Beweis. Und natürlich hat General Milley dies gesagt. Aber er ist eine Person, und eine Person ist fehlbar. Von einer Meinung auf alle zu schließen ist: ein induktiver Fehlschluss. Was bei alledem unterschlagen wird: ohne westliche Waffenlieferungen hätte es dieses Patt überhaupt nicht gegeben, sondern die Ukraine wäre im besten Fall ein russischer Vasallenstaat, im schlechtesten Fall zerstückelt in Volksrepubliken. Waffenlieferungen sollte es laut diesem Manifest ja nicht geben, aber sie haben zu dem Zustand geführt, der jetzt konstatiert wird. Das ist allerdings ein praxeologischer Widerspruch. Denn wäre es nach den Initiatorinnen gegangen, die ja von Anfang an Waffenlieferungen ablehnen, wäre die Ukraine längst unterworfen worden. Sich jetzt also auf einen status quo argumentativ zu stützen, den es mit der eigenen Position gar nicht gegeben hätte, ist der nächste logische Widerspruch.
Dann aber wird es infam: „Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern.“ Doch, in diesem Falle heißt Verhandeln kapitulieren. Denn das russische Kriegsziel ist die Zerstörung der Ukraine als eigenständiger Staat. Überdies setzt dies voraus, dass es eine Bereitschaft zu Kompromissen gibt, die nicht gegeben ist, was allerdings im Kern darauf basiert, dass ein Staat überfallen wurde, und gleichzeitig dessen Bevölkerung grausamste Kriegsverbrechen erlitt.
Wenn Kompromisse akzeptabel sind, dann sind Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zu fragen: wie viel besetztes Territorium ist denn in Ordnung, wie viele Morde an Zivilisten und wie viele Vergewaltigungen akzeptabel? Es gibt schlicht Dinge, die nicht kompromissfähig sind. Die russische Kriegsführung, gerade auch jetzt mit den gezielten Angriffen auf die kritische Infrastruktur, ist auf Vernichtung ausgelegt, nicht auf Kompromiss. Es wird also eine Prämisse eingeführt, die empirisch nicht haltbar ist. Das ist die dritte logische Inkonsistenz.
Zum Schluss wird es dann offen einseitig: „Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben“. Es wird nicht Wladimir Putin, der Verursacher des Krieges aufgefordert, seine Waffenlieferungen oder weitere Mobilmachungen zu stoppen, sondern der Bundeskanzler. Was für eine Täter-Opfer-Umkehr, was für eine Apologie des Aggressors!
Vor allem ist das Manifest so kurzfristig gedacht und damit verheerend. Im russischen Fernsehen wird über weitere Annexionen nachgedacht, Putins Bluthund Kadyrow fordert offen die erneute Annexion Ostdeutschlands. Das Manifest vergisst, dass das neoimperialistische, revanchistische Russland dann ermutigt werden würde, weitere Länder anzugreifen.
Die hier vorgeschlagene Politik des Appeasement und der Verhandlungslösung gegenüber Russland ist versucht worden nach den russischen Annexionen 2014. Sie ist durch den jetzigen Angriffskrieg phänomenal gescheitert, daher ist es ahistorisch, dasselbe nochmal zu versuchen. Zumal sich Russland jetzt noch viel offener, viel aggressiver verhält als damals.
Es gibt auch mehrere historische Beispiele dafür, dass Russland sich nicht an Verhandlungslösungen gehalten hat. Das Minsker Friedensabkommen, geschlossen nach den Gründungen der Volksrepubliken Donezk und Luhansk, wurde von beiden Seiten, Russland und der Ukraine verletzt. Beerdigt wurde es allerdings durch die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk durch Russland kurz vor dem Krieg. Im Budapester Memorandum von 1994 hat Russland der Ukraine für den Verzicht auf Atomwaffen (welchen die Ukraine vollzog) Sicherheitsgarantien gegeben, insbesondere den Schutz der territorialen Integrität und Souveränität des Landes. Auch dieses Abkommen wurde, wie auch die Charta von Paris 1990 und die KSZE-Schlussakte von Helsinki, durch den russischen Angriffskrieg gebrochen. Daher ist die Initiatorinnen dieses Manifests klar zu fragen: warum genau sollte sich Russland diesmal an eine Verhandlungslösung halten? Zumal Putin ja klar erklärt hat, seinen Verhandlungspartner überhaupt nicht anzuerkennen.
Hinzu kommt, und das ist die größte intellektuelle Schwäche dieses Manifests: das einzige, was Russland überhaupt zu Verhandlungen an den Tisch gebracht hat, waren die Erfolge der Ukraine auf dem Schlachtfeld, für die wiederum westliche Waffen unabdingbar waren. Hätte es nicht schon früher ein militärisches Patt gegeben, wäre Putin überhaupt nicht an den Verhandlungstisch gekommen, wie zum Beispiel über das Getreideabkommen. Genau diesen relevanten Hebel aber soll man jetzt der Ukraine nehmen, obwohl sie das Opfer der imperialistischen Aggression Russlands ist. Das ist nicht nur logisch und politisch inkonsistent, sondern moralisch infam, und in der Tat Unterwerfungspazifismus.
Zusammengefasst ist das „Manifest für den Frieden“ in seinen Konsequenzen politisch verheerend, implizit bis explizit einseitig aufseiten des Aggressors, mehrfach logisch inkonsistent und daher eine intellektuelle Zumutung. Dennoch ist es in einer Demokratie wichtig, dass diese Position vertreten ist. In Russland würden Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer für ein solches Manifest kaum lange in Freiheit leben.