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Den Ukrainekrieg vorwärts denken

Das militärische Momentum verändert die politische Situation

Die Ukraine hat im Oblast Charkiw eine erfolgreiche Offensive übernommen, welche einen zweiten Kulminationspunkt in diesem Krieg (vgl. Clausewitz: 1832) darstellen könnte, nachdem der Militärkonvoi vor Kiew zu Beginn des Krieges aufgehalten werden konnte. Zwar ist die Offensive der ukrainischen Armee im Oblast Cherson derzeit noch nicht erfolgreich. Dennoch ist das Momentum des Krieges jetzt auf Seiten der Ukrainer.

Durch die westlichen Waffenlieferungen (vgl. Zellner: 2022), insbesondere die Himars-Systeme, konnten Basen und Munitionsdepots der russischen Armee sowie verschiedene Brücken als Nachschubwege zerstört werden. Innerhalb eines wenig befestigten Bereiches konnte die ukrainische Armee mit hochmobilen Einheiten schnell und tief vorstoßen. Dadurch waren die russischen Einheiten gezwungen zu fliehen und teils schweres militärisches Gerät zurückzulassen.

Der wohl wichtigste Effekt dabei war, dass es denkbar wurde, dass die russische Armee besiegt werden kann. Ebenso konnte durch diese wichtigen Geländegewinne auch die zunehmende politische Infragestellung der Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine begrenzt werden. Es zeigt sich zunehmend: die Sanktionen wirken, insbesondere auf die Militärkapazitäten der russischen Armee. Vor allem allerdings verändert sich die Situation insofern, als dass das militärische Patt aufgebrochen ist, und die Fragen nach einer Beendigung des Krieges, als auch verschiedene, vorher kaum denkbare Post-Krisen-Szenarien möglich geworden sind. Nun ist es wichtig, aus dem militärischem Momentum ein politisches Momentum zu machen.

Wie dieser Angriffskrieg enden könnte

Das Ende des Krieges wurde sehr häufig als die Möglichkeit diskutiert, dass die Ukraine kapitulieren sollte, so wie es auch viele Prominente in einem offenen Brief faktisch gefordert haben. Jetzt ist ein Szenario denkbar, auch deutlich schneller denkbar, als wir es vorher dachten: der militärische Sieg der Ukraine. Denn die russische Armee ist demoralisiert, und eine Generalmobilmachung in Russland erscheint derzeit innenpolitisch noch nicht durchsetzbar.

Das erste Szenario wäre die Lieferung schwerer Waffen, insbesondere von westlichen Kampfpanzern, wodurch der Krieg relativ bald im Sinne der Ukraine entschieden wird. Hierbei verwirklicht die Ukraine ihre von Präsident Selenskij ihre definierten Kriegsziele, nämlich die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine im Zustand vor den Annexionen 2014. Sollte dies realisiert werden, ist davon auszugehen, dass es massive politische Brüche innerhalb des russischen Regimes gibt, bis hin zum Sturz, da insbesondere russische Nationalisten schon jetzt, angesichts der Niederlage bei Charkiw schäumen. In diesem Szenario ist jedoch von russischen Rache- und Vergeltungsakten auszugehen, die wir auch jetzt schon erleben mussten beim Angriff auf kritische ukrainische Infrastruktur sowie den Kriegsverbrechen rund um Isjum.

Das zweite Szenario sieht etwa so aus, dass der jetzige Erfolg nur ein Zwischenerfolg war, es noch bestimmte Geländegewinne gibt, die Ukraine aber nicht in der Lage ist, die annektierten Gebiete zurückzuerobern. Es kommt wieder zu einem militärischen Patt, und einem Abnutzungskrieg, und der Druck auf beiden Seiten hin zu einer Einigung steigt. In einem Friedensvertrag wird dann der status quo von 2014 festgeschrieben, wahrscheinlich eine Waffenruhe zunächst unter Einbeziehung der Vereinten Nationen, und Russland wird sich darauf nur einlassen, wenn die Ukraine ihren Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft deutlich macht. Eine offene Frage wird in diesem Szenario die Frage der Reparationen sein.

Das dritte Szenario ist die russische Generalmobilmachung. Unter dem Druck der Silowiki und der russischen Nationalisten (Belton: 2019; Snyder: 2018) sieht Putin die Niederlage im Krieg als die größere Bedrohung seiner Macht als die Generalmobilmachung, und es werden alle wehrfähigen Männer eingezogen, und die russische Propaganda macht dies zu einem neuen Großen Vaterländischen Krieg zur Verteidigung gegen die NATO. Sollte dies geschehen, ist es eher wahrscheinlich, dass Russland den Krieg gewinnt, in jedem Fall große Geländegewinne erzielt, und sich das Momentum des Krieges erneut wendet. Allerdings hat dieses dritte Szenario auch erhebliche Implikationen für Russland, nämlich einerseits massive innere Unruhen und Instabilität, da der Krieg dann eben Menschen auch im Alltag betrifft, und das russische Propagandanarrativ, dass alles nach Plan laufe, ad absurdum geführt wird. Sollte es dann wieder zu russischen Geländegewinnen kommen, wird ein Partisanenkrieg sehr wahrscheinlich, der wiederum erhebliche russische Kräfte bindet. Denn durch die jetzt erneut bekannt gewordenen Kriegsverbrechen in den russischen Gebieten gibt es eine erhebliche Motivation, die russischen Besatzer loszuwerden.

Das vierte Szenario, der militärische Sieg der russischen Armee mit den bisherigen Kräften und der bisherigen Taktik, ist hingegen unwahrscheinlich, insbesondere aufgrund des effektiven Einsatzes westlicher Waffen durch die ukrainische Armee.

Eine Frage mit jetzt ganz neuer Relevanz: Jene der Reparationen

Dadurch, dass Szenario 1 überhaupt denkbar wurde, aber auch Szenario 2 nach wie vor wahrscheinlich ist, stellt sich die Frage der Sanktionen, und diese Frage wurde auch von der ukrainischen Führung aufgemacht und mit 300 Mrd beziffert.

Russland hat einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gebrochen, es hat vorsätzlich zivile und militärische Infrastruktur zerstört, und kann daher hierfür auch finanziell zur Rechenschaft gezogen werden. Für die Frage der Reparationen gilt der alte Satz von Thomas Hobbes: potestas non veritas facit legem (Macht, nicht Wahrheit, macht das Gesetz). Denn würde Russland den Krieg militärisch gewinnen, würde sich die Frage gar nicht stellen. Durch die wahrscheinlicher werdende Niederlage Russlands hingegen wird diese Frage hochaktuell.

Natürlich stellt sich die Frage, wie genau Reparationen durchgesetzt werden sollen, und in welcher Höhe. Ebenso ist hier zu bedenken, dass die Ukraine schon vor dem Krieg durch hohe Korruption gekennzeichnet war, so dass im Falle einer tatsächlichen Zahlung sicher nicht nur der Wiederaufbau des Landes befördert wird, sondern auch seine Oligarchisierung. Und natürlich wäre die Zahlung von Reparationen für Russland eine massive Demütigung, weshalb dies wohl nur bei einer massiven militärischen Niederlage oder nach einem Regimewechsel dort politisch durchsetzbar wäre.

Die Verhängung von Sanktionen durch internationale Institutionen dürfte Russland nicht beeindrucken, denn es hat mit dem Krieg eine praktische Negation der regelbasierten Ordnung gezeigt. Wahrscheinlich sind es nur zwei praktische Szenarien, welche Russland dazu bewegen würden, Sanktionen zu zahlen. Nämlich erstens die militärische Eroberung insbesondere der Krim, und zweitens die Drohung, bei einem entsprechenden militärischen Durchmarsch insbesondere mittels der Himars-Systeme militärische Ziele auch weit hinter der russischen Grenze als Präventivschläge durch die Ukraine anzugreifen. Dies allerdings würde massive innenpolitische Konsequenzen in westlichen Ländern haben, da dann die Waffenlieferungen harsch aufgrund der Umwidmung zu Angriffswaffen kritisiert werden würden. Es müsste also etwas anderes her.

Das mögliche Junktim von Sanktionen und Reparationen

Die Wirtschaftssanktionen schaden Russland schon jetzt (Krätke: 2022), und sie schaden der russischen Armee massiv. Sie hängen Russland zunehmend technologisch ab, und der Wohlstand der russischen Mittelschicht wird sinken. Nicht umsonst hat Putin jüngst in Wladiwostok die westlichen Sanktionen massiv kritisiert, und das Junktim eröffnet, dass Gas durch Nord Stream II fließt, wenn die Sanktionen aufgehoben werden. Damals war die militärische Situation allerdings noch eine andere.

Wenn klar wird, dass Russland militärisch besiegt worden ist, und gleichzeitig der wirtschaftliche Druck hoch wird, dann kann eine Situation entstehen, in der es nur noch um Schadensbegrenzung für die russische Seite geht. Dann könnte eine Verhandlungslösung gefunden werden, in der die Ukraine von seinen Maximalforderungen der Sanktionen heruntergeht und die westlichen Staaten ihre Sanktionen fallenlassen, wenn Russland diese Reparationen zahlt. Dies wäre für viele Seiten positiv, denn es ließen sich Wohlstandsverluste eindämpfen, und die Ukraine könnte effektiv mit dem Wiederaufbau beginnen.

Jedoch: Es darf kein Versailles 2.0 geben

Russland, das hat sich jetzt doch eindrucksvoll gezeigt, ist eine revanchistische Macht (Belton: 2019), welche schon durch eine militärische Niederlage gedemütigt wird. Angesichts des Angriffskrieges und der schrecklichen Kriegsverbrechen ist der Wunsch nach Bestrafung Russlands durch einen harten Friedensvertrag allzu verständlich, moralisch rechtfertigbar, aber eben nicht politisch klug.

Denn das Problem ist nicht nur Putin, es sind die Nationalisten, es sind die ehemaligen KGB´ler in den Führungspositionen, und diese bleiben in Machtpositionen, da sie bereit sind, alle Ellenbogen einzusetzen und im Wortsinne über Leichen zu gehen.

Im Versailler Friedensvertrag von 1919 wurde eine revanchistische Macht, damals Deutschland, gedemütigt und ökonomisch schwer beschädigt. Davor hatte schon der berühmte britische Ökonom John Maynard Keynes, der an den Verhandlungen beteiligt war, gewarnt (Zinn: 2012), und er hatte Recht behalten. Neben der Dolchstoßlegende, nach der das deutsche Heer im Felde unbesiegt und von Juden und Kommunisten mittels Dolchstoß geschwächt wurde, war der Versailler Vertrag ein wesentliches politisches Mobilisierungsmoment für die Nationalsozialisten (vgl. Ottmann: 2012).

So schlimm das derzeitige russische Regime ist, es nicht das schlimmstmögliche, und gerade der ehemals als Reformer gefeierte Dmitri Medwedew zeit sich immer stärker als ein eifernder Nationalist. Hinzu kommt: Der Wunsch nach Vergeltung für die Demütigungen könnte sich in permanenten militärischen Auseinandersetzungen niederschlagen, die auch viel größer werden als der schwelende Krieg im Donbass seit 2014. Die russische Wirtschaft war schon vor dem Krieg geschwächt, wenig diversifiziert, und sie leidet unter den Sanktionen. Daher könnten allzu starke Reparationen massive Gegenbewegungen und anhaltenden Hass nach sich ziehen, da das russische Regime die Kausalität, dass der verlorene Krieg zu Sanktionen geführt habe, umkehren und ein Narrativ der gezielten und strategischen Schwächung Russlands etablieren, das viele bereit sind zu glauben.

Das bedeutet, dass es einerseits sicher Reparationen geben sollte, allerdings in einem Rahmen, der für Russland noch verkraftbar ist. Die westlichen Staaten sollten jetzt schwere Waffen liefern, um das in ihrem Interesse befindliche Szenario I wahrscheinlich zu machen, aber auch, um den Druck auf Russland zu erhöhen, den Krieg zu beenden und sich zurückzuziehen. Gleichzeitig sollte der Friedensschluss so gestaltet sein, dass klar ist, dass ein vom Zaun gebrochener Angriffskrieg eben starke Konsequenzen nach sich zieht, insbesondere auch, um China von einem möglichen Angriff auf Taiwan abzuhalten. Hier einerseits das Momentum des Krieges und den richtigen Zeitpunkt für einen Friedensschluss zu nutzen, und andererseits den schmalen Grat zwischen Abschreckung und Demütigung hinzubekommen. Dies bedarf enormer Staatskunst.

Literatur

Belton, Catherine (2019). Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste.

Clausewitz, Carl (1832). Vom Kriege.

Krätke, Michael (2022). Putins großer Bluff. Wie Russland den Wirtschaftskrieg verliert. Blätter für deutsche und internationale Politik, 9,

Ottmann, Henning (2012). Geschichte des politischen Denkens. Das 20. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler.

Zellner, Wolfgang (2022). Krieg bis zur Erschöpfung? Warum wir eine langfristige Strategie gegenüber Russland brauchen. Blätter für deutsche und internationale Politik, 6, S. 61-68.

Zinn, Karl Georg (2012). Die Krise in der Krise. Austeritätspolitik und die Wiederholung der Geschichte. Blätter für deutsche und internationale Politik, 2, S. 45-52.