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Der Bundeskanzler braucht Reibung: Eine rhetorische Analyse

Einführung: Ein wie ausgewechselter Bundeskanzler

Olaf Scholz gilt nicht unbedingt als ein mitreißender oder gar brillanter Rhetoriker. Im Gegenteil, er gilt eher als spröde, teils als technokratisch, und eine einschläfernde, langatmige Rede wird mittlerweile manchmal auch als „scholzen“ bezeichnet.

Gestern allerdings war der Bundeskanzler wie ausgewechselt. Er sprach pointiert, frei, klar, war angriffslustig, präzise und hat eindringlich gesprochen und endlich auch einmal das getan, was schon seit längerem von ihm erwartet wird: er hat seine Politik und deren Prämissen erklärt. Genau deshalb war diese gestrige Rede rhetorisch auch seine bisher beste, sogar noch etwas besser als seine „Zeitenwende“ Rede kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine.

Auffällig war, dass er ein ganz klares Framing verwendet und multipel erläutert hat: „Wir lösen die Probleme bereits, bevor sie sie erkennen“. Dieser Vorwurf, gerichtet an die Union, wurde quer durch die verschiedenen Politikfelder, insbesondere aber in der Energiepolitik, durchdekliniert. Gerade die vollen Speicher und die Vorbereitung von Energieimporten durch die entsprechenden Terminals sieht er als seine Leistung. Ebenso möchte er offenkundig die Fußballhymne „You´ll never walk alone“ tatsächlich als Claim seiner Regierung etablieren, auch wenn dies belächelt wurde.

Reibung mit Merz erzeugt rhetorische Hitze

Der Oppositionsführer und Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Fraktion Friedrich Merz hat die Bundesregierung im Allgemeinen sowie den Kanzler und den Wirtschaftsminister Habeck für seinen kommunikativ klar mißglückten Auftritt bei Maischberger scharf angegriffen. Sein Kernvorwurf ist jener der Untätigkeit, auch des zu wenig, was sich natürlich auch auf die militärische Unterstützung für die ukrainische Landesverteidigung bezieht. Der Bundeskanzler hat dies offenkundig rhetorisch antizipiert, da Merz diesen Vorwurf regelmäßig erhebt.

Manchmal braucht es einfach einen Widerpart, auch jemanden, der einen reizt und auf Betriebstemperatur bringt. Die Rededuelle zwischen Herbert Wehner (SPD) und Franz-Josef-Strauß (CDU) waren Legenden, auch Boris Johnson (Tories,UK) lief bei den Angriffen von Keir Starmer (Labour, UK) zu besonderer Form auf. Es scheint sich auch hier ein Duell zum beiderseitigen rhetorischen Vorteil von Merz und Scholz neu herauszubilden, welches diese Legislatur wohl prägend wird, auch deshalb, weil zu erwarten ist, dass beide dann die Kanzlerkandidaten ihrer jeweiligen Parteien sein werden.

Die rhetorische Hitze tut der Streitkultur sehr gut, denn die drängenden Fragen werden von beiden angesprochen: wie kommen wir durch den Winter? Wie wird der soziale Zusammenhalt gerade angesichts der Inflation gesichert? Was genau sollte die Regierung jetzt sinnvollerweise tun? Allerdings, und das ist wichtig für die politische Kultur: die Vorwürfe beziehen sich immer noch auf konkretes Handeln und insbesondere Nichthandeln. Es sind jedoch keine Pauschalangriffe auf die Person oder Persönlichkeit, und genau das ist wünschenswert.

Warum genau war diese Rede von Olaf Scholz so stark

Weil er endlich mit Pathos sprach, weil er nahezu komplett frei sprach, und weil er mittels der Stimme tatsächlich gekämpft hat. All dies hat man so fast nie von ihm gesehen. Insbesondere die Schärfe der Attacken auf die Union hatte eine ganz andere Qualität, und dieser offen konfrontative Stil widerspricht der bisherigen Herangehensweise des Kanzlers an politische Auseinandersetzungen.

Vor allem hat Olaf Scholz geschickt die Eigenwertbruchstrategie verwendet, indem er die Union bei zwei zentralen Punkten ihres politischen Selbstverständnisses traf: erstens bei der Verantwortung, zweitens beim Selbstverständnis als Regierungspartei. Denn er sprach an, dass es verantwortungslos war und ist, bei den erneuerbaren Energien so zu bremsen, und sich auch in solche energiepolitischen Dependenzen zu bewegen. Dass das Herbeireden einer gesellschaftlichen Spaltung genau diese herbeiführen kann und genau deshalb verantwortungslos ist. In der Folge hat er mehrfach darauf verwiesen, dass es gut ist, dass die Union, welche die Probleme herbeigeführt hat, eben nicht regiert. Das widerspricht dem Verständnis der Union diametral.

Gleichzeitig hatte die Rede natürlich auch eine koalitionspolitische Funktion. Denn die Fliehkräfte innerhalb der Koalition wurden größer, auch öffentlicher Mißmut über bestimmte Koalitionspartner (insbesondere die FDP) wurde mehr, widerspricht aber dem Wunsch des Kanzlers nach einer möglichst geräuschlos nach außen und effizient nach innen funktionierenden Koalition. Indem er das Narrativ der Fortschrittskoalition damit substanziiert, dass diese schon Probleme löst, bevor andere sie erkennen, und dies mit der Union, die für die Probleme und den Stillstand gesorgt hat, kontrastiert, hat er die Reihen nach innen geschlossen. Der ziemlich einhellige, multiple Applaus aus den Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, und teils der FDP, zeigt, dass dies gelang.

Warum diese starke Rede in ihrer politischen Wirkung dennoch ambivalent ist

Als der Bundeskanzler seine „Zeitenwende“ Rede hielt, gingen viele davon aus, dass Olaf Scholz jetzt endlich in der Kanzlerschaft angekommen ist, und dass er, anders als die vorherige Bundeskanzlerin, seine eigene Politik erläutert. Danach kam allerdings: wenig Kommunikation, wenn auch viel Handeln. Auch jetzt wird es so sein, dass nach dieser Rede die kommunikative Erwartungshaltung erhöht wird, aber das Erklären seiner Politik ist eben nicht die politische Eigentlichkeit von Olaf Scholz. Daher ist damit zu rechnen, dass er jetzt wieder rhetorisch einige Zeit abtauchen wird, was Erwartungen enttäuscht.

Seine Botschaft, dass die Regierung die Probleme sieht, dass sie sich kümmert, und dass sie die Preise effektiv begrenzen wird, wirkt erst einmal stark und wird auch weithin von der Bevölkerung als Output-Legitimation des Regierungshandelns erwartet. Allerdings knüpft das an bereits früher bestehenden politischen Steuerungsoptimismus an, der insbesondere in der Sozialdemokratie stärker ausgeprägt war und ist. Angesichts der Vielfachkrisen (Ukrainekrieg, Klimakrise, Corona, Inflation etc.) ist dieser Anspruch allerdings kaum zu erfüllen, und es wird Menschen und Unternehmen, die alleine wandern, oder in die Insolvenz gehen müssen. Genau dann, wenn das im Winter passiert, kann dies auf die Regierung im Allgemeinen aber auch den Kanzler sowie den Wirtschaftsminister im Speziellen zurückfallen, gerade weil die gestrige Botschaft so überraschend stark war. Genau darin liegt die Ambivalenz der gestrigen Rede des Bundeskanzlers.