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Der neue Geist des Kapitalismus

Moritz Kirchner

Moritz Kirchner hat seine Promotion zu diesem Thema an der Universität Potsdam verfasst. Er arbeitet als Trainer, Berater, Coach und Redenschreiber, und beobachtet damit fast jeden Tag den prozessierenden neuesten Geist des Kapitalismus

Marx, Weber und deren Grenzen

Der Kapitalismus hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten trotz seiner insbesondere von Marx herausgearbeiteten Dysfunktionalitäten und Krisen (Marx: 1978; Marx: 1977) durch eine besondere Anpassungsfähigkeit, Lernfähigkeit und Resilienz ausgezeichnet (vgl. Bröckling: 2017). Anders als andere politisch-ökonomische Systeme vermag er es, die Kritik zu absorbieren und einen Lernmechanismus in Gang zu setzen, der trotz vieler Untergangsszenarien (Zizek: 2008; Habermas: 1973).

Die klassisch marxistische Analyse des Kapitalismus ging davon aus, dass es wesentlich die Determinanten des kapitalistischen Produktionsprozesses seien, die es zu ergründen und zu verstehen gilt (vgl. Marx: 1969). Andere Phänomene wie die Kultur, das kapitalistische Mobilisierungsregime, gar eine internalisierte kapitalistische Ideologie galten als ephemere Überbauphänomene. Demgegenüber hat Max Weber in seiner Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ klar erkannt, dass es ehr wohl einer kapitalistischen Stützideologie bedarf, die in der Konsequenz zur Herausbildung kapitalismuskompatibler Subjekte führt (Weber: 1920). Genau diese sah er in der protestantischen Ethik, die ein wesentliches Produkt des Calvinismus war, welcher Leistungsdenken, Sparsamkeit und gesellschaftlichen Aufstieg, vor allem aber Reichtum nicht länger verteufelte, sondern im Gegenteil als wünschenswert ansah, und damit perfekt kompatibel mit Kapitalakkumulationsregimen war. Daher gab es eine Koinzidenz von Calvinismus und Frühkapitalismus, nach Weber sogar eine Kausalität (Weber: 1920). Dieser Geist des Kapitalismus, den Weber herausarbeitete, war also das soziale Aufstiegsversprechen durch Bildung und Anstrenung, der Anspruch, dass Leistung sich lohnt, das traditionelle Karrieremodell (Rogge 2017: 364). Jedoch: Im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung (Luhmann: 1984), die auch mit einer Ausdifferenzierung von Wertesystemen einherging (vgl. Inglehart: 1989), war das alte Mobilisierungsregime nicht mehr tragfähig. Denn gerade die jüngeren, die als kapitalistische Leistungsträger gebraucht wurden, liessen sich mit protestantischer Arbeitsethik immer weniger einfangen. Etwas Neues, verheißungsvolleres musste her.

Der neue Geist des Kapitalismus als Resultat des französischen 1968

In der Nachkriegszeit fand in vielen Ländern Westeuropas eine Bildungsexpansion statt, so auch in Frankreich. Diese steigerte nicht nur das Bildungsniveau der Studierenden, sondern auch deren Ansprüche an die Arbeit und ein gelingendes Leben. In Deutschland war 1968 sehr stark mit der Aufarbeitung der Vergangenheit verknüpft („Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“). In Frankreich hingegen kam es zu einer Koinzidenz von einerseits Protesten der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften, die gegen Ausgrenzung und für soziale Gerechtigkeit sowie mehr Verteilungsgerechtigkeit kämpften, was sich als Sozialkritik zusammenfassen lässt (Boltanski & Chiapello, 2006). Andererseits kämpften Studierende, Künstlerinnen und Künstler sowie Intellektuelle gegen starre Hierarchien, gegen die Bürokratie, gegen die Verdinglichung aller Sachverhalte und für mehr Emanzipation, Selbstverwirklichung und Selbstorganisation. Dieser Strang der Kritik kann als Künstlerkritik zusammengefasst werden (Boltanski & Chiapello, 2006).

Gemäß der Theorie des neuen Geistes des Kapitalismus bestand die Reaktion der französischen Managementeliten darin, dass sie die Sozialkritik zurückwiesen, da diese ihre Kapitalakkumulation beträchtlich stören würde. Die Künstlerkritik hingegen wurde aufgenommen, als ein Korrektiv betrachtet und entsprechend in Managementmethoden überführt. Sie wurde wie so vieles im Kapitalismus: inkorporiert.

Aus der Hierarchiekritik wurde der Anspruch auf flache Hierarchien. Der oder die Vorgesetzte sollte zunehmend als Berater, besser noch als Coach verstanden werden. Teamarbeit und Selbstorganisation wurde eingeführt, um mehr Freiheit zu ermöglichen. Das Arbeitsleben, aber auch das Leben insgesamt wurde zunehmend an Projekten ausgerichtet. Statt Arbeitsplatzsicherheit stand nun Employability im Fokus. Der einzelne hat seine soft skills zu entwickeln, um möglichst anschlußfähig zu sein und möglichst immer neue Projekte generieren zu können. Diejenigen, die sich durch besonders viel Aktivität auszeichnen, genießen innerhalb eines „projektbasierten Gemeinwesens“ eine hohe Wertigkeit, und diejenigen mit weniger Aktivität stehen in ihrer gesellschaftlichen Anerkennung weiter unten. All das beschreibt den Kern der Theorie des neuen Geistes des Kapitalismus (Boltanski & Chiapello: 2006). Die Frage ist nur: Lässt sich dieser so generalisieren?

Die Grenzen des Ansatzes des neuen Geistes des Kapitalismus

Der neue Geist des Kapitalismus soll die vorherrschende Rechtfertigung innerhalb des Wirtschaftslebens sein. Jedoch ist bei klarer Betrachtung der Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Branchen feststellbar, dass wir es oft nach wie vor mit klaren Hierarchien zu tun haben und vielen Beschäftigten kaum Möglichkeiten haben, sich selbst zu verwirklichen. Durch die neuen digitalen Technologien hat die zahlenbasierte Kontrolle häufig sogar noch zugenommen (Mau: 2017). Viele Vorgesetzte verstehen sich nach wie vor als Chefs, weniger als Coaches für ihre Beschäftigten oder gar als Künstler, wie es die Theorie des neuen Geistes des Kapitalismus annimmt.

Zwar hat die Projektförmigkeit im Arbeitsleben zugenommen, und definitiv hat der Stellenwert der je eigenen Employability im Kontext des Diskurses um Eigenverantwortung zugenommen (Blickle 2014: 189). Dennoch kann nicht generalisiert davon ausgegangen werden, dass das Leben ausschließlich als eine Abfolge von Projekten zu verstehen ist. Ebenso erklärt die reine Aktivität nicht ausschließlich die Einkommens- und Statusunterschiede in unserer Gesellschaft (vgl. Boltanski/Chiapello: 2006). Die „working poor“ sind hierfür ein beredtes Beispiel (vgl. Spannagel/Seils: 2014).

Die wichtigste Grenze des Ansatzes des neuen Geistes des Kapitalismus ist jedoch, dass 1968 sicher nicht der wichtigste Grund der Veränderung der kapitalistischen Konfiguration ist, jedenfalls nicht in Deutschland (vgl. Rosa: 2016). Daraus ergibt sich, dass es, auch aufgrund der gesamtgesellschaft-lichen Beschleunigung (Rosa: 2005), bereits Zeit für einen neuesten Geist des Kapitalismus ist.

Der neueste Geist des Kapitalismus

Die Frage ist, was die zeitgenössischen kapitalistischen Rechtfertigungen, Narrative und Ideologien sind, welche Beschäftigte jeden Tag aufs Neue dazu motivieren, ihre Arbeitskraft entsprechend zu verwerten. Der neueste Geist des Kapitalismus geht grundlegend davon aus, dass dem eine komplexe Rechtfertigung zugrunde liegt, die mehrere Facetten beinhaltet. Ebenso wird davon ausgegangen, dass die Globalisierung (vgl. Malik: 2011) und Digitalisierung (vgl. Brynjolfsson/McAfee: 2014), vor allem aber die Internalisierung von Jahrzehnten des Neoliberalismus innerhalb der einzelnen Subjekte (Stiglitz: 2017; Bröckling: 2007) diese neueste kapitalistische Konfiguration hervorgebracht haben.

Ergo ist das erste, worum es im neuesten Geist des Kapitalismus geht, der beständige Wunsch nach (beruflicher wie privater) Optimierung. Der beständige Imperativ, sich selbst zu verbessern, hat sich tief in die Subjekte eingeschrieben (Günther, 2013; Bröckling: 2007).

Zweitens geht es in immer stärkerem Maße, die Dinge nach ihrer Nützlichkeit zu bewerten. Natürlich ist der Utilitarismus an sich kein neues Phänomen (vgl. Polanyi: 1978), jedoch wird gerade im ökonomischen Denken im Prinzip alles anhand von Effizienz und seinem Nutzen (bzw. seiner Nutzenfunktion) bewertet. Mit diesem Utilitarismus geht natürlich auch ein Individualismus einher, welcher den gesamtgesellschaftlichen Blick stark verengt (Walzer 2006: 22).

Die dritte Komponente des neuesten Geistes des Kapitalismus bezeichne ich als normativen Eudaimonismus. Es geht nicht mehr nur, wie im neuen Geist des Kapitalismus, um Selbstverwirklichung (vgl. Tullius/Wolf: 2016; Quante: 2013). Es geht auch nicht mehr nur darum, das Glück als eine normative Option des Lebenszieles zu betrachten (Mutz/Kämpfer 2013: 258). Sondern es geht um die Verdichtung und Allgegenwärtigkeit von Glücksnarrativen und Glücksanforderungen. Jedoch stellt sich dann, auch mit dem Begründer der Positiven Psychologie die Frage: Was ist mit denen, die unglücklich sind (Seligman 2012: 31)? Der normative Eudaimonismus wirkt nämlich exkludierend und kann effektiv das Gegenteil seines Zieles bewirken.

Viertens wird, als besondere Folge der Internalisierung des Neoliberalismus, in besonderem Maße das Leistungsprinzip affirmiert. Dies bedeutet einerseits, dass Leistung zu bringen ein relevantes, von vielen geteiltes Ziel ist (Tullius/Wolf: 2016; Micus: 2015). Andererseits geht damit einher, dass unterschiedliche Leistungen auch als starke Legitimationsquelle für soziale Unterschiede gesehen werden, was dann auch seitens der Performer mit einer Stigmatisierung arbeitsloser Menschen einhergeht (Marg: 2015).

Fünftens steigt, auch als Folge der Affirmation des Leistungsprinzips, aber auch als kompensatorische Antwort auf die zunehmenden Abstiegsängste der Mittelschicht (Koppetsch: 2015), das Bedürfnis nach sowie der Vollzug von Distinktion (vgl. Bourdieu: 2007). Gerade auf echte und vermeintliche „Minderleister“ wird verächtlich herabgeschaut. Die Erwerbsarbeit als Quelle von Identität und Selbstwert hat eher noch zugenommen (vgl. Jaeggi/Kübler: 2014), und dementsprechend auch die distinktive Abwertung derer, deren angenommene Wertigkeit geringer ist. Die wesentliche Rechtfertigung dieser sozialen Wertigkeitsordnung (Boltanski/Thévenot: 2007) ist die attribuierte Leistung, die ein Mensch bringt, welche sehr oft mit der Erwerbsarbeit gleichgesetzt wird.

Die sechste Komponente des neuesten Geistes des Kapitalismus ist Komplexität als Metathema. Die Komplexität steigt immer weiter an, damit auch die Unsicherheit, sowohl beruflich als auch privat. Zielkonflikte begegnen uns immer häufig, weshalb die Ambiguitätstoleranz eine immer wichtigere Tugend wird (Kholin/Blickle 2015: 20; Bröckling 2007: 70). Vor allem aber: Die Fähigkeit, Komplexität bewältigen zu können, wird immer mehr zum allgemeinen Äquivalenzmaßstab, genau wie zur Rechtfertigung und Legitimation sozialer und materieller Unterschiede (vgl. Jansen: 2017). Deshalb wird die Einkommensspreizung zwischen hoch qualifizierten Beschäftigten, normalen lohnabhängig Beschäftigten und gering  qualifizierten immer weiter zunehmen, und damit in der Konsequenz auch die Vermögensdisparitäten weiter ansteigen.

Siebtens gewinnt die Performativität, die Vorstellung, das eigene Leben wie ein Kunstwerk zu inszenieren (vgl. Günther: 2013; Geuss: 2013), durch die insbesondere durch social Media generierten Darstellungsmöglichkeiten eine neue Relevanz und Qualität. Zwar haben wir immer schon alle auch Theater gespielt (Goffmann: 2013 (1959)), aber die Möglichkeiten, genau dieses zu tun sind exponentiell gestiegen, und sie werden auch genutzt. Persönliche Blogs, eigene Youtube-Kanäle und die Emergenz der Influencer sind die konkrete Phänomenologie der Performativität des neuesten Geistes des Kapitalismus. Die Performativität ist aber auch eine unmittelbare Folge der gestiegenen Notwendigkeit zur Selbstvermarktung (vgl. Bröckling: 2007).

Die achte Komponente des neuesten Geistes des Kapitalismus ist wesentlich eine Folge der beständigen Optimierung, der Performativität und der Leistungsaffirmation. Es ist die Ruheproblematik. Denn der neueste Geist des Kapitalismus verlangt einem eine beständige vita activa ab (Arendt: 2015 (1972)), die vita contemplativa bleibt hingegen auf der Strecke. Daraus ergeben sich natürlich bestimmte Pathologien der Arbeit (Jaeggi/Kübler: 2014), insbesondere Burnout, Depressionen und Angststörungen (Günther: 2013), deren Prävalenzraten in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen sind. Es geht also um leistungs- und beschleunigungsbedingte Pathologien, bei denen die sozialen Verhältnisse eben nicht systematisch auf ein gelingendes Leben hinwirken, sondern vielmehr krank machen (Rosa 2013: 28).

Neuntens zeigt sich sowohl in den konkreten Arbeitsverhältnissen, als auch in den neuesten Managementtechniken, immer mehr aber eben auch im Weltzugang die besondere Salienz der Quantifizierung (Mau: 2017), die besondere Bedeutung von Statistiken. Kennzahlen, Key Performance Indicators, zahlenbasierte Prozesskontrolle in Echtzeit, aber auch die zunehmende Verwendung von Statistiken in Diskursen führt zu einem zunehmend „stochastischen Weltbild“. Die Tendenz zur Quantifizierung zeigt sich natürlich in den Wissenschaften, immer stärker auch in den Sozialwissenschaften (Probst: 2016). Die Paradoxie dieses stochastischen Weltbildes, welches gesichertes Wissen durch Zahlen als Autoritäten schaffen möchte, ist jedoch, dass Statistiken erkenntnistheoretisch notwendig immer einen probabilistischen Charakter haben (Bortz/Döring 2006: 9). Kapitalismus und Quantifizierung sind natürlich in einer Wahlverwandtschaft, denn die Kapitalakkumulation muss natürlich messbar sein (vgl. Mau: 2017) Für die einzelnen Subjekte heißt es dann: Nur, was sich in Zahlen aufführen lässt, ist real. Alles andere ist notwendig irrelevant. Folglich produziert die zunehmende Quantifizierung tatsächlich eindimensionale Menschen (Marcuse: 2014).

Permanente Optimierung, die Hegemonie utilitaristischen Denkens, der normative Eudaimonismus, die Leistungsafformation, die gestiegene Distinktionsbereitschaft, Komplexität als erlebtes Metathema, die Performativität des Privaten, die resultative Ruheproblematik und ein stochastisches Weltbild ergeben also zusammen den neuesten Geist des Kapitalismus.

Kritik des neuesten Geistes des Kapitalismus

Luc Boltanski und Eve Chiapello haben ihr Werk „Der neue Geist des Kapitalismus“ geschrieben in der Absicht, die Kritik des Kapitalismus zu stärken, was aber Verstehbarkeit der jeweiligen kapitalistischen Konfiguration voraussetzt. Der neueste Geist des Kapitalismus zeichnet sich durch eine Destruktivität aus, die mit seiner Dauerhaftigkeit noch weiter zunehmen wird. Die immer stärkere kapitalistische Kommodifizierung immer weiterer Lebensbereiche (Sandel: 2014; Marx/Engels: 1972) ist nichts neues, aber er stellt sich als eine innere kapitalistische Landnahme dar (vgl. Bröckling: 2007).

Der neueste Geist des Kapitalismus wirkt in vielerlei Hinsicht exkludierend. Denn nicht alle können oder wollen sich beständig optimieren. Nicht jeder Mensch hat ein starkes Leistungsmotiv, und dementsprechend eine besondere Leistungsaffirmation (vgl. McClelland: 1987). Nicht-utilitaristische Wertorientierungen werden pejorativ betrachtet, obgleich ihre ethische Dignität, wie zum Beispiel bei einer solidarischen Wertorientierung, viel höher sein kann. Am deutlichsten aber zeigt sich die Exklusion anhand der Ruheproblematik. Immer mehr Menschen kommen aus dem Gleichgewicht, weil sie entweder direkte Verwertungsanforderungen verspüren, sie verinnerlicht haben, oder eine Kombination aus beidem.

Die Märkte transformieren sich aufgrund der Hyperkompetitivität immer weiter in „the-winner-takes-it-all“ Märkte (Latouche). Das bedeutet, dass bei denen, die sich durchsetzen, besonders hohe Gewinne anfallen, andere aber kaum noch etwas abbekommen. Die Gewinner jedoch werden von starken Abstiegsängsten gequält (Koppetsch: 2015), da schon der zweite Platz bedrohlich ist. Damit sind sie trotz ihres Status nicht glücklich, obgleich sie es doch sein sollten.

Die grundlegende, auf vermeintlicher Leistung basierender Distinktion nimmt zu, und wird durch die neuen sozialen Netzwerke mit einer Performativität verknüpft, in der das eigene Leben demonstrativ zur Schau gestellt wird. Dabei wird fleißig von Techniken des Impression Management Gebrauch gemacht (Blickle 2013: 303), und das eigene Leben tendenziell erfolgreicher, vielfältiger und aufregender dargestellt, als es tatsächlich ist. Dadurch aber fällt, systemisch bedingt, der Vergleich des eigenen Lebens mit dem anderer meist ungünstig aus, was einerseits uns zu immer weiterer Leistung und Performativität anspornt, andererseits uns aber erneut unglücklich macht. Insgesamt lässt sich also festhalten: Der neueste Geist des Kapitalismus basiert auf Verheißungen, die er systemisch bedingt nicht garantieren kann.

Was tun?

Es gibt vielfältige politische Optionen, die in Betracht kommen, um wirksam das Prozessieren des neuesten Geistes des Kapitalismus zu verändern. Aus der Perspektive der Sozialkritik ist zunächst vollkommen klar, dass die Steuerpolitik insbesondere im Kontext vererbter Vermögen verändert werden muss, um den Patrimonialkapitalismus (Piketty: 2014), präziser die Renaissance der Ständegesellschaft zu verhindern. Die Paradise Papers, Panama Leaks, Luxemburg Leaks und viele weitere Skandale im Kontext des globalisierten Finanzmarktkapitalismus haben erstens gezeigt, dass auch komplexe Konstrukte dekonstruierbar und rückverfolgbar sind. Sie haben vor allem aber zweitens gezeigt, dass Steueroasen endlich konsequent geschlossen werden müssen (Zucman: 2014). Der politische Kampf für eine, mindestens europaweite, Finanztransaktionssteuer muss weitergehen (Ghosh: 2015), denn auch diese Forderung reicht angesichts der Finanzmarktexzesse bis weit in die Gesellschaft hinein.

Die Kampagne insbesondere der IG Metall zu Beginn diesen Jahres hat gezeigt, dass Zeitsouveränität (Geissler: 2008), vor allem aber Zeitwohlstand (vgl. Rosa: 2005) Ziele sind, mit denen sich viele Menschen identifizieren, und die ein Gegenmodell zur Daueroptimierung schaffen. Eine Umkehr der Flexibilisierungsanrufung, die jetzt auch endlich von den Arbeitgebern die Flexibilität verlangt, welche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten Jahrzehnten des Neoliberalismus leisten mussten, erscheint als sehr erfolgversprechende Strategie.

Das Bedingungslose Grundeinkommen ist natürlich eine relevante Option, da es den einzelnen den unmittelbaren Verwertungszwang nimmt und die relative Verhandlungsposition der lohnabhängig Beschäftigten stärkt. Aber es hat absehbar keine gesellschaftliche oder politische Mehrheit, da es dem internalisierten Leistungsdenken zu sehr widerspricht.

Es wird immer wichtiger, dass die Subjekte der Kritik noch stärker als bisher Komplexität drastisch reduzieren, um politische Sachverhalte überhaupt wieder einer Kritik zugänglich zu machen. Denn immer häufiger wird die Komplexität angeführt, um bestimmte Diskurse a priori zu verhindern. Die Komplexitätsreduktion des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP auf die berühmt-berüchtigten Chlorhühnchen ist hierfür ein gutes Beispiel. Hier besteht natürlich die Gefahr, dass ein solcher Populismus in verschiedene Richtungen politisch anschlussfähig ist (Müller: 2016).

Vor allem aber braucht es eine Stärkung der Gewerkschaften. Dadurch wird es möglich, eine neue Ordnung der Arbeit zu schaffen (Dingeldey/Warsewa: 2016). Der Kampf um ein „neues Normalarbeitsverhältnis“, er ist angesichts der jahrelangen Prekarisierungswellen (vgl. Lorey: 2013) nicht etwa konservativ, sondern progressiv. Die Gewerkschaften sind ein Ort, an dem organische Solidarität möglich wird. Sie bilden die relevanteste institutionelle Gegenmacht, die angesichts des demographischen Wandels, aber auch dem gestoppten Trend des Mitgliederverlustes weiterhin an Bedeutung gewinnt. Hinzu kommt, dass zunehmend auch die Gewerkschaften nicht mehr nur auf die Stammbelegschaften fokussieren und Stellvertreterpolitik machen. Nein, sie verstärken auch ihre Bemühungen um eine gerechte Gestaltung der zunehmend digitalisierten Arbeitswelt, welche bitter nötig ist (Yogeshwar: 2017).

Am wichtigsten jedoch: Angesichts des ubiquitären neuesten Geistes des Kapitalismus ist chillen die neue Subversion.

 

Literatur

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