Einleitung: Ein auf den zweiten Blick schwieriges Ergebnis
Die Französinnen und Franzosen haben die den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl absolviert. Auf den ersten Blick hat sich nicht so viel Die Französinnen und Franzosen haben die den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl absolviert. Auf den ersten Blick hat sich nicht so viel verändert, da der Liberale Macron und die Rechtspopulistin Le Pen in der Stichwahl sind und der Linkspopulist Jean-Luc Melenchon erneut knapp scheiterte. Faktisch ist die Situation jedoch um ein Vielfaches verändert, und ein Wahlsieg Macrons ist definitiv kein Selbstläufer. Frankreich stimmt jetzt über die Bilanz des Präsidenten ab, er und seine République en Marche haben nicht mehr die Ära des Neuen und des Aufbruches, und die tief sitzenden Ressentiments und das Gefühl des Niederganges („le déclin) sind nach wie vor tief innerhalb Frankreichs verwurzelt. Welche Auswirkungen all dies hat, davon handelt dieser Text.
Die Verschiebungen der politischen Landschaft sprechen nicht für Macron
In Frankreich, das hat der gestrige Wahlabend gezeigt, sind die beiden klassischen Volksparteien schlichtweg implodiert. Die Konservative Valerie Pécresse von Les Républicains erhielt gerade einmal 4,79%, die angesehene Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo von der Parti Socialiste (welche noch vor 6 Jahren mit Francois Hollande den Präsidenten stellte) gerade einmal 1,74%. Das ist ungefähr so, als würden wir in Deutschland direkt wählen, und Armin Laschet hätte knapp 5% bekommen und Olaf Scholz knapp 2%.
Zwar hat Macron ein respektables Ergebnis erhalten, allerdings ist seine eigene Formation, La République en Marche, zwar auf gesamtstaatlicher Ebene und der Assemblée Nationale relevant, konnte sich aber zum Beispiel kommunal kaum verankern.
Bisher war es in Frankreich stets so, dass wenn es bei Präsidentschaftswahlen nicht das klassische Duell zwischen Konservativen und Sozialisten gab, sondern eine dieser Parteien nicht in die Stichwahl ging, dass dann die Wählerinnen und Wähler der jeweils anderen Partei im zweiten Wahlgang wie eine Wand den im ersten Wahlgang siegreichen Konservativen oder Sozialisten wählten, um eine rechtspopulistische Präsidentschaft zu verhindern. Dies war 2002 eindrucksvoll zu sehen, als der Konservative Jacques Chirac im zweiten Wahlgang mit 82% gegen Jean-Marie Le Pen, den Vater der heutigen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, gewann. Nur: diesen Teil der Wählerschaft, gebunden an die Parti Socialiste oder Les Républicains und vereint in ihrer Abneigung gegen Rechtsexteme) gibt es kaum noch, und es gibt keinen Automatismus, dass Menschen, die Pécresse oder Hidalgo wählten, jetzt für Macron stimmen werden. Noch am ehesten kann er mit den Stimmen derer rechnen, die für Yannick Jadot (Europe Ecologie – Les Vertes; 4,58%) gestimmt haben. Ganz neu hingegen war die Konkurrenz für Marine Le Pen am rechten Rand, welche in dem stark antimuslimisch agitierenden Journalisten Eric Zemmour bestand. Zwar hat dieser mit 7,05% weniger bekommen als erwartet, allerdings ist eines relativ sicher: wer im ersten Wahlgang Zemmour wählte, wählt im zweiten Le Pen. Denn sie sind sich beide in ihrer rechtspopulistischen Programmatik sowie ihrer Ablehnung liberaler Eliten einig.
Das Linksbündnis La France Insoumise hat sich faktisch konsolidiert, da ihr Anführer Jean-Luc Mélenchon mit 21,95% sogar mehr Stimmenanteile erhielt als vor fünf Jahren. Allerdings hat es Mélenchon damals nicht geschafft, seine Anhängerinnen und Anhänger zur Wahl Macrons aufzurufen, da er diesen als Neoliberalen verabscheut. Diesmal hat er noch am Wahlabend gesagt, dass es keine Stimmen aus dem sozialistischen Lager für Marine Le Pen geben sollte. Damit sagte er nicht, man solle Macron wählen. Und die Frage ist, ob all seine Anhängerinnen und Anhänger darauf hören werden. Denn politisch gibt es durchaus Gründe, warum diejenigen, die im ersten Wahlgang Mélenchon wählten, im zweiten Wahlgang Le Pen wählen könnten.
Die Unberechenbarkeit des Elektorats von La France Insoumise
Das unbeugbare Frankreich, La France Insoumise, ist ein Zusammenschluss verschiedener linker Kräfte, dem es dennoch nicht gelang, alle Linken unter sich zu vereinen, was letztlich auch den Einzug in die Stichwahl verhinderte. Ihr Anführer Jean-Luc Mélenchon ist, für deutsche politische Verhältnisse, in erheblichem Maße mit Oskar Lafontaine zu vergleichen, sowohl was sein Ego als auch was seine Programmatik angeht. Denn er vertritt linkspopulistische, antineoliberale und antiamerikanische Positionen, und hat sich aus der Sozialdemokratie, seiner politischen Herkunft gelöst. Mélenchon polarisiert sehr stark und arbeitet gern mit Ressentiments, gegen Reiche, gegen neoliberale Eliten, aber auch gegen die Europäische Union. Genau in diesem Antiliberalismus, der Anti-Establishment-Haltung sowie der Negation einer vertieften europäischen Integration (wenn auch mit anderer Begründung als bei den Rechtspopulisten) gibt es eine Klammer zu den Positionen, aber auch zur Wählerschaft des Rassemblement National (früher: Front National), der Partei Marine Le Pens. Vor allem zieht La France Insoumise auch viele Protestwählerinnen und Protestwähler an und stellt konsequent die soziale Frage. Dies wiederum ist eine Besonderheit des Rassemblement National: anders als viele andere rechtspopulistische Parteien in Europa (z.B. die AfD, die FPÖ) vertritt sie eine dezidierte Sozialstaatsprogrammatik, nur eben begrenzt auf Französinnen und Franzosen. Sie ähnelt damit der polnischen PiS, die einerseits klar nationalistische, aber andererseits auch klar sozialstaatliche Politiken betreibt. All das bedeutet, dass es durchaus Gründe gibt, wie die Protestwahl, die Anti-Establishment-Haltung sowie der Fokus auf die soziale Frage, welcher Teile des Elektorats von La France Insoumise zu Marine Le Pen führen dürfte, während es kaum Gründe für diese Wählerschaft, einen liberalen Pariser Bänker wie Macron, der überdies wenig soziale Sensibilität insbesondere während der Gelbwestenproteste bewies, zu wählen. Dadurch, dass Mélenchon selbst einen linken Republikanismus vertritt, der auch durchaus als Nationalismus verstanden werden kann, ist auch die Brandmauer nach rechts nicht so groß. Hinzu kommt, dass Marine Le Pen seit mehr als einem Jahrzehnt (erfolgreich) eine Strategie der dédiabolisation, der Entteufelung fährt, und zum Beispiel dem expliziten Antisemitismus ihres Vaters eine klare Absage erteilte. Auch dadurch dürfte es deutlich leichter fallen, von links nach rechts im zweiten Wahlgang zu gehen.
Die Gelbwesten (les gilets jaunes) waren eine diffuse und heterogene soziale Protestbewegung, die sich an der Frage der Benzinpreise entzündete, und dann verschiedene gesellschaftliche Konflikte thematisierte. Diese wurden von Le Pen und Mélenchon unterstützt, während Macron als Präsident erst gar nicht auf sie einging, um dann scheibchenweise Zugeständnisse zu machen. Wer bei diesen Protesten dabei war, dürfte nicht Macron wählen.
Ebenso hat Macron als Präsident gegen diverse Proteste eine bereichsbezogene Impfpflicht im Gesundheitswesen durchgesetzt und, nachdem in der ersten Welle der Pandemie im Osten schlimmerweise triagiert werden musste, später eine sehr restriktive Eindämmungspolitik gefahren, welche unter anderem explizite Ausgangssperren vorsah, sowie eine indirekte Impfpflicht über rigide Zugangsvorschriften. Marine Le Pen hat diese Politik klar kritisiert und Melenchon warb für freiwillige Impfungen sowie kostenlose Tests, aber niemand von ihnen für die rigide Linie des Präsidenten. Diejenigen, die also ihren Unmut über die Pandemiepolitik zum Ausdruck bringen wollen, werden im zweiten Wahlgang Le Pen wählen.
Das Schreckgespenst einer rechten Präsidentin ist also bei vielen nicht mehr so groß, und es gibt deutlich mehr Menschen, die definitiv nicht Macron wählen werden bzw. ihn als Präsidenten verhindern wollen, während es wenig genuine Gründe gibt, ihn zu wählen. Genau das macht den zweiten Wahlgang so unberechenbar.
Der Ukrainekrieg als temporäre Renaissance Macrons
Es sah zwischenzeitlich sehr düster für Macron aus. Dann allerdings hat der Krieg ihm wieder Auftrieb gegeben, und er hat sich als entschlossener Europäer sowie als Diplomat inszeniert, und ging davon aus, dass Menschen in Kriegs- und Krisenzeiten keine politischen Experimente wagen werden. Dies hat gut geklappt, allerdings kam jetzt Marine Le Pen eben doch wieder heran. Auch Macrons Diplomatie konnte den Krieg nicht verhindern, und seine Pläne für eine vertiefte europäische Integration und europäische Souveränität konnte er nicht durchsetzen, da sie vor allem in der deutschen Nichtbefassung damit scheiterten.
Jetzt allerdings setzt bereits eine gewisse Gewöhnung an den Krieg ein, und das Schreckensszenario eines russischen Sieges in der Ukraine samt nachfolgender Bedrohung der anderen osteuropäischen Staaten, insbesondere jener in der EU und NATO, ist erst einmal vom Tisch. Daher dürfte der Amts- und Krisenbonus halbwegs verbraucht sein.
Macron hat weder in der Sozialpolitik noch in der Steuerpolitik Schritte unternommen, die linken Wählern besonders gefielen. Vor allem die Lockerungen des Kündigungsschutzes und die Abschaffung der Vermögenssteuer waren für linke Wählerinnen und Wähler eine politische Zumutung. Jetzt einen Linksschwenk zu vollziehen, wäre daher unglaubwürdig. Dennoch muss er den Wählern von La France Insoumise zeigen: ich habe euch verstanden. Sonst kann es passieren, dass viele einfach nicht wählen gehen, der rechte Block aus den Wählern Le Pens und Zemmours steht, und das dann ausreicht. Die bisherige Strategie, einfach das Schreckgespenst eines rechten Präsidenten bzw.einer rechten Präsidentin an die Wand zu malen, wird definitiv nicht mehr ausreichen. Macrons Aufgabe wird es sein, aufzuzeigen, wo er hinwill, wie er für sozialen Ausgleich sorgen will, und wie er die jetzige Führungsrolle Frankreichs im Sinne der Französinnen und Franzosen nutzen will.
Gelingt das nicht, hat die Europäische Union ein gewaltiges Problem, und in Moskau knallen die Sektkorken. Denn Marine Le Pen war bisher stets eine standfeste Parteigängerin Putins. Das darf gerade jetzt, in diesem existenziellen Konflikt zwischen dem demokratischen Europa und dem zunehmend totalitären Russland nicht passieren. Macron hat es in der Hand, aber es wird schwer. Denn das Wahlergebnis der ersten Runde, es war trügerisch.
Dr. Moritz Kirchner