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Die groteske Geschichtsvorlesung Putins als Lehrstück der Kriegslegitimation und der politischen Propaganda

Die ultimative Eskalation der Krise durch eine Rede

Wladimir Putin hat, relativ überraschend, eine Fernsehansprache gehalten, welche eine Geschichtsvorlesung war, die ihresgleichen suchte. Er leitete das Recht der Russen auf die Ukraine aus der Geschichte ab und sprach ihr die eigene Staatlichkeit ab. Nach dieser Rede ist deutlich, wie tief die Feindschaft Putins zum Westen ist. Die unmittelbaren Konsequenzen der Rede sind bis auf die Anerkennung der Republiken Donezk und Luhansk der Einmarsch in diese Gebiete. Faktisch allerdings stehen die Zeichen jetzt auf Krieg

Putin zeigte erneut auf, dass aus seiner Sicht es nur darum ging und geht, dass der Westen bzw. die NATO Russland kleinhalten möchte. Er beginnt hierzu schon tief in der Geschichte, auch der Geschichte der Sowjetunion, und zeigt erstens, in welch geistiger Tradition er steht, und zweitens, dass es ein tiefer Ausdruck seines Denkens war und ist, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts war.

Die Interpretation, dass die Ukraine letztlich nur ein Konstrukt sei, geschaffen von der Kommunistischen Partei, ist mehr als nur eigenwillig, hat allerdings einen legitimatorischen Charakter. Denn wenn die Ukraine eigentlich nicht eigenständig sei, ein Produkt der Sowjetunion, dann sei es ja im Prinzip auch keine wirkliche Verletzung der territorialen Integrität, jetzt in einen souveränen Staat einzumarschieren.

Er verwendet die Geschichte als Erklärung seiner Politik, und nutzt sie auch als Legitimation, insbesondere wenn er die Ukraine als integralen Bestandteil Russlands, des historischen Russlands betrachtet, und auch noch einmal in besonderem Maße die Geschichte Neurusslands betont. Für westliches Denken kaum greifbar, zeigt Putin ein Geschichtsbild,

Das propagandistische Grundmuster: Die Schuldumkehr

Putin hat der Ukraine vorgeworfen, ihre eigenen Atomwaffen sehr schnell produzieren zu wollen, gerade weil sie noch entsprechende Bestände aus der Sowjetzeit haben. Dabei lässt er vollkommen außer Acht, dass innerhalb des Budapester Memorandums es Russland war, welches der Ukraine für den Verzicht auf Atomwaffen die volle territoriale Integrität zusicherte. Dass die Nachbarländer Russlands direkt den russischen Waffen ausgeliefert sind, hält er hingegen für akzeptabel.

Dadurch, dass Putin unterstellt, dass die NATO ja inzwischen faktisch die Ukraine militärisch regiert, wird daraus eine entsprechende Bedrohung für Russland abgeleitet. Genau das aber verkennt, dass es der massive russische Militäraufmarsch an der Grenze zur Ukraine ist, welcher die tatsächliche Bedrohung darstellt.

Putin betont erneut, dass kein Land das Recht hat, seine eigene Sicherheit herzustellen, ohne die Sicherheit anderer zu gefährden, und bezieht sich damit auf den möglichen NATO-Beitritt der Ukraine. Die Annexion der Krim und die faktischen Annexion des Donbass zeigen jedoch, dass Russland genau das Gegenteil dessen getan hat, was es jetzt der Ukraine vorwirft.

Putin erwähnt erstmals, und mit viel Pathos, dass er einst bei Bill Clinton nachfragte, ob Russland nicht Teil der NATO werden könnte, und er eben sehr verhalten antwortete, was stimmen dürfte. Dann aber fragt er rhetorisch, warum man, wenn man Russland nicht zum Freund haben wolle, es zum Feind mache. Dies verkennt, dass Russland sich selbst durch die Krim-Annexion, die Unterstützung Baschir Al-Assads und diverse Destabilisierungsversuche, Cyberattacken etc. selbst in Opposition zum Westen gebracht hat.

Diese Schuldumkehr, die Selbstinszenierung als Opfer, es ist ein klassisches Muster der politischen Propaganda.

Die Kriegslegitimation: Wir müssen uns verteidigen

Immer wieder erscheint das Narrativ, dass Russland bedroht wird. Insbesondere wird als aktueller Anlass der Beschuss im Donbass genutzt, bei dem überhaupt nicht klar ist, woher dieser kommt. Hierbei wird sogar als rhetorische Exaggeration von einem „Genozid“ gesprochen, den man natürlich verhindern müsse. Gleichzeitig sagt er jetzt, dass die ukrainische Regierung jetzt für die weiteren Handlungen die Verantwortung trägt. Damit kann der Fortgang der Kämpfe dort jetzt als Kriegsgrund genutzt werden.

Der Kern der Selbstverteidigungslegitimation als Kriegsgrund ist jener, dass Putin unterstellt, die NATO habe faktisch die Kontrolle über die Ukraine, sie wolle Russland kleinhalten, und sie wolle dafür die Ukraine als Sprungbrett nutzen, und genau dagegen müsse man sich zur Wehr setzen. Diese Begründung, dass man sich selbst verteidigen müsse (obwohl man selbst der Aggressor ist), sie hat es in der Geschichte dutzendfach gegeben.

Ebenso wird erneut das Narrativ der Einkreisung Russlands, der Bedrohung Russlands verwendet, welche die Sicherheit des Landes bedroht, genau wie die NATO durch ihren aggressiven Charakter. Hierzu müsse man sich zur Wehr setzen. Sicher hat die NATO, bzw. haben NATO-Staaten gegen Verbündete Putins agiert, wie gegen Assad. Allerdings hat es diese direkte Konfrontation gegen Russland nicht gegeben. Und Putin spricht damit auch allen osteuropäischen Staaten faktisch ihre Legitimation ab, selbst über die Mitgliedschaft in einem Militärbündnis zu unterscheiden. Dass zum Beispiel die baltischen Länder Mitglied der NATO wurden, ist ja gerade Ausdruck des Wunsches nach Verteidigung und Sicherheit, allerdings gegenüber Russland.

Das rhetorische Grundmuster: Der russische Exzeptionalismus

Amerika hält sich selbst für eine besondere, für eine auserwählte Nation, und daraus erwächst das Grundgefühl eines amerikanischen Exzeptionalismus. Hier war jetzt zutiefst exemplarisch die russische Version eines Exzeptionalismus zu gehören. Denn erstens wird ein bestimmtes Territorium als russisch angesehen, weil es dies einst war, und es deshalb für das Land so besonders und somit eben noch heutiger integraler Bestandteil sei.

Russland betont sein Sicherheitsbedürfnis und leitet daraus sein Handeln ab. Aber all das, was er den anderen vorwirft, die Einkreisung, die Betonung von Atomwaffen, bestimmte Verletzungen der Souveränität durch andere Länder, all dies hat er mehrfach im postsowjetischen Raum praktiziert, ergo gilt dieses Sicherheitsbedürfnis nur für Russland, aber nicht für die anderen Ländern: genau das ist die Essenz des russischen Exzeptionalismus, die in der Rede zum Ausdruck kam.

Ebenso ist Putins Geschichtsdeutung ausschließlich aus der russischen und seiner persönlichen Perspektive erzählt worden. Dass sich insbesondere die postsowjetische Geschichte auch anders er-zählen lässt, wird vollkommen ausgeblendet. Dies geht allerdings nur, wenn man selbst einzigartig ist: der russische Exzeptionalismus, den er jetzt erneut mit Waffengewalt durchsetzen und Fakten schaffen will. Dass dies in der Vergangenheit gelang, hat genau diesen Exzeptionalismus befördert.

Das psychologische Muster: Wir sind nicht gehört worden, ich bin nicht gehört worden

Psychologisch ist diese Rede ebenfalls sehr aufschlussreich. Denn Putin betont immer wieder, dass Russland sich an seine Verpflichtungen hielt, während die russischen Vorstellungen nie gehört wurden. Immer wieder wird daraus dann abgeleitet, dass man sich jetzt eben Gehör verschaffen muss. Es erinnert tatsächlich an ein Kind, welches nicht genügend Liebe und Aufmerksamkeit erfahren hat, und sich deshalb jetzt gegen die Eltern wendet. Dazu passt auch die trotzige Rechthaberei und das Insistieren auf der einen Wahrheit, die nur entsprechend nicht gehört wird.

Ebenso ist hier ein Muster zu erkennen, welches tiefenpsychologisch als Regression bezeichnet wird, als das Zurückgehen auf eine kindliche Stufe des Verhaltens, um so Ängste zu bewältigen. Die erwachsene Version der Politik, sich an Regeln und Verträge zu halten, Kompromisse zu suchen und gemeinsam nach Lösungen zu schauen, wird hier verdrängt durch ein teils infantiles Verhalten, in dem ich mir „meins“ (ergo: die Ukraine) einfach nehme, vollkommen ungeachtet der Konsequenzen, und ich dies einfach mache, weil ich es kann. Dadurch wiederum entsteht politisch eine postmultilaterale, postregelbasierte Ordnung.

Dabei lässt sich nicht sagen, dass dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit nicht genügend Beachtung geschenkt wurde, denn immerhin haben in den letzten Tagen und Wochen westliche Staatschefs reihenweise mit Putin gesprochen und sich an einen langen Tisch setzen lassen. Allerdings konnten sie natürlich den Forderungen, die sich aus dem russischen Exzeptionalismus ableiten, nicht nachgeben, ohne ihre osteuropäischen Verbündeten und die NATO in ihrer Substanz zu gefährden. Die daraus resultierende Kränkung, in Kombination mit vorherigen Kränkungen kann dann eben zu einem derart regressiven Verhalten führen.