Einleitung: Ghosting als Zeitgeistphänomen
Das Phänomen des Ghostings beschreibt, dass man sich nach einer Kommunikation und Interaktion einfach nicht mehr meldet, also sprichwörtlich zum Geist wird, unsichtbar. Ghosting meint insbesondere, dass es selbst bei entsprechender Kontaktaufnahme keinerlei Rückmeldung mehr der anderen Person gegenüber gibt, diese sich also sprichwörtlich der Kommunikation entzieht, aber eben nicht kommuniziert, nicht kommunizieren zu wollen. Das Phänomen tritt nach Dates, Streits, in der beruflichen oder ehrenamtlichen Zusammenarbeit, aber manchmal auch in langjährigen Freundschaften auf, und es nimmt gefühlt sehr stark zu.
Das Ghosting ist in multipler Hinsicht ein Zeitgeistphänomen.
- ist es die konsequente Weiterentwicklung des Prinzips der Wegwerfgesellschaft auf das Zwischenmenschliche, auf soziale Beziehungen. Denn als ghostende Person entledige ich mich ja einer anderen Person, im Sinne von „aus den Augen, aus dem Sinn“.
- wird heutzutage eine echte Auseinandersetzung, eine Klärung häufig vermieden, bzw. auch Konflikte immer seltener wirklich ausgetragen und ausgehalten (vgl. Pörksen & Schulz von Thun, 2020; Pörksen, 2019).
- ermöglicht das Ghosting natürlich auch eine soziale Form der Beschleunigung (Rosa: 2012), denn wenn ich eine Person ghoste, muss ich ja keinerlei Zeit mehr auf diese Person aufwenden, und kann mich anderen Personen direkt zuwenden. Genau diese soziale Beschleunigung ist, gerade auch durch Social Media und Dating-Apps verstärkt, in starkem Maße Ausdruck des Zeitgeistes.
Warum ist Ghosting eigentlich so problematisch?
Ghosting lässt die geghostete Person in einem Zustand konstitutiven Nichtwissens zurück. Es ist unklar, was die andere Person verärgert, zum Rückzug gebracht hat, welche Wortwahl oder Verhaltensweise als verletzend empfunden wurde. Das heißt, eine Person bleibt mit lauter Fragen zurück und hat keine Chance, dass diese beantwortet werden, eben aufgrund des Ghostens. Hinzu kommt, dass eine mögliche Klärung, ggf. das Auflösen von Missverständnissen, aber auch schlichtweg Klarheit gar nicht möglich ist. Denn mittels des Ghostings wird ja die mögliche klärende Kommunikation explizit verweigert.
Ghosting sendet zweitens eine sehr hierarchische Botschaft aus: ich bestimme, dass wir nicht mehr miteinander reden, es ist eine ultimative und unausgesprochene Punktsetzung und damit Ausdruck einer klaren kommunikativen Hierarchie (Schulz von Thun, 2008a; Schulz von Thun, 2008c). Zudem hat es noch eine arrogante Konnotation, denn es kommuniziert folgendes gleich mit: Ich erachte es nicht für nötig, dir klar zu kommunizieren, warum ich nicht mit dir kommuniziere.
Ghosting impliziert drittens ein starkes Maß an Nichtempathie. Denn wie es der anderen Person damit geht, geghosted zu werden, wird ja dann einfach ausgeblendet. Aus den Augen und aus dem Smartphone, aus dem Sinn. Gerade dadurch, dass man ja nicht mehr miteinander kommuniziert, wird die Ratlosigkeit, das Gefühl der Zurückweisung, aber auch das Ohnmachtsgefühl, komplett der anderen Person übergeholfen.
Ghosting schafft viertens ein starkes Maß an emotionaler Asymmetrie. Denn die Affektbilanz, das heißt die Differenz zwischen positiven und negativen Affekten, ist zwischen der ghostenden Person und der geghosteten Person sehr unterschiedlich. Die ghostende Person hat dann ihre Ruhe und qua Abschirmung ab einem bestimmten Punkt keinerlei negative Effekte, und je öfter sie es macht auch umso weniger ein schlechtes Gewissen, welches die Affektbilanz auch beeinträchtigen könnte. Die geghostete Person hatte ja erstens keine Wahl, geghosted zu werden, ist objektiv zurückgesetzt, in einem Zustand der Unklarheit und ohne jedwede Selbstwirksamkeit und stattdessen durch das erlittene Ghosting in erlernter Hilflosigkeit. Folglich ist die Affektbilanz der geghosteten Person sehr negativ. Im Kern aber bedeutet Ghosting: ich bin vorsätzlich bereit, andere zu verletzen, indem ich einfach nicht mehr mit ihnen spreche (und das auch nicht begründe). Genau das aber ist unethisch. Die einzige Rechtfertigung dafür ist eine massive Verletzung der ghostenden Person davor.
Ghosting ist fünftens feige. Es bedeutet, sich der Dissonanz, dem Konflikt, den unterschiedlichen Prämissen, der Verletztheit, dem was-auch-immer sich nicht zu stellen. Dies ist zwar kurzfristig rational, weil es das Problem, genau wie Verdrängung, erst einmal beiseite wischt. Es hat aber genau wie Verdrängung das Problem, dass dadurch Persönlichkeitsentwicklung (Neyer & Asendorpf, 2018; Roth, 2015) erschwert bis verunmöglicht wird. Es birgt aber die Gefahr, dieses Verhalten zu generalisieren und sich immer wieder schwierigen Situationen und Konflikten nicht zu stellen. Mut hingegen besteht im Gegenteil, nämlich sich bewusst auch schwierigen kommunikativen Situationen zu stellen.
Sechstens sorgt Ghosting stets für ein Gefühl der Unvollkommenheit, und macht es auch schwer, mit einer Person abzuschließen. Aus der Psychologie gibt es den sogenannten Zeigarnik-Effekt. Dieser besagt, dass wir alle in unterschiedlich starkem Ausmaß das Bedürfnis haben, etwas, dass wir begonnen haben, auch zu beenden bzw. zu einem guten Ende zu bringen. Aber das können wir ja nicht, weil das, was wir sagen oder schreiben, zu keinerlei Resonanz führt (vgl. Rosa: 2016). Genau deshalb aber bleibt der Sachverhalt für die geghostete Person offen, während die ghostende Person ja durch den Schritt des Ghostens aufgezeigt hat, dass sie mit etwas abgeschlossen hat. Ein gemeinsames, konsensuales Klären oder Auseinandergehen ist dann aber nicht möglich.
Aus all diesen sechs Gründen ist Ghosting ein hochproblematisches, feiges, verletzendes und hierarchisches Verhalten, welches eine Schattenseite des heutigen Zeitgeistes darstellt, und dennoch, insbesondere weil es bequem ist, immer mehr Verbreitung erfährt.
Mögliche Legitimationsbasis des Ghosting
Trotz all dieser aufgezeigten Schwierigkeiten, die deutlich machen, warum Ghosting so problematisch und so wenig rechtfertigbar ist, gibt es dennoch Konstellationen und Fälle, in denen es durchaus legitim erscheint.
Gemäß der Theorie geplanten Verhaltens (vgl. Schmid & Pfetsch, 2018) ist davon auszugehen, dass wir uns zielgerichtet entscheiden, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen (oder zu unterlassen). Motivationspsychologisch kann grundlegend davon ausgegangen werden, dass der Anreiz eines Verhaltens mal der Wahrscheinlichkeit seiner Realisierung unsere Motivationstendenz ergibt (Rheinberg, 2002). Das Ghosting hat natürlich eine hohe Wahrscheinlichkeit, denn wir müssen ja einfach nur nicht antworten.
Ein durchaus nachvollziehbarer Grund ist eine schwerwiegende persönliche Verletzung oder Enttäuschung. Jede und jeder von uns hat in sich etwas, was als persönliches Tabu (Haidt, 2012), als individuelle Heiligkeit bezeichnet werden kann. Wenn diese bekannt war und vorsätzlich dagegen verstoßen wurde, so kann dies natürlich ein Grund dafür sein, dass es keinerlei Anschlusskommunikation mehr gibt.
Natürlich sind Übergriffe, Grenzüberschreitungen, multiple Beleidigungen, physische und/oder psychische Verletzungen, sozial vollkommen inakzeptables Verhalten, oder Sachen die justiziabel sind, auch ein klar legitimer Grund, danach zu ghosten. Denn sowohl das Gesetz als auch der Anstand verbieten, ein solches Verhalten zu zeigen, und das ist auch nicht weiter begründungspflichtig, daher ist dann natürlich auch das Ghosting legitim.
Ebenso, wenn klar ist, dass die andere Person ein „nein“ nicht akzeptiert, ausfällig wird oder sich ewig in der Kommunikation festbeißt oder einen nur mit Vorwürfen überschüttet. Wir müssen uns nicht allem aussetzen, was es geben kann, und in der Tat sollte es so sein, dass der Wunsch, eine Kommunikation oder Interaktion welcher Art auch immer, nach entsprechend legitimer Enttäuschungsphase dann auch akzeptiert werden sollte. Sofern dies sich nicht einstellt, darf sicher auch geghosted werden.
Das war es dann aber auch schon mit den legitimen Gründen, und es gibt deutlich mehr Situationen, in denen geghosted wird, und die unter keine dieser Fälle fallen.
Kleine ethische Analyse des Ghostens
Das Ghosting wird hier ja einer fundamentalen ethischen und moralischen Kritik unterzogen, daher sollte es sinnvollerweise erst einmal eine ethische Analyse dessen geben. Klassischerweise werden die kantische Ethik, die utilitaristische Ethik und die Tugendethik genutzt, um genau diese vorzunehmen (Pauer-Studer: 2010).
Gemäß der Kantischen Ethik kommt es auf die Absichten, auf die Maximen des Handelns an. Es stellt sich gemäß dem kategorischen Imperativ die Frage, ob ein Verhalten verallgemeinerungsfähig ist (Jaeggi, 2014; Pauer-Studer, 2010), ob ich nach der Maxime handle, dass mein eigenes Verhalten allgemeines Gesetz werden könne. Oder einfacher formuliert: „Was ist, wenn jeder so handeln würde?“. Wenn das wirklich der Fall wäre, wären wir jederzeit in der Unsicherheitssituation, ob die andere Person ohne Vorwarnung einfach die Beziehungsebene zueinander beendet. Die Folge wäre ein permanentes Mißtrauen, oder aber auch der Verzicht auf Sozialität, um ja nicht enttäuscht zu werden. Unsere Gesellschaft würde also kälter, unsozialer, vertrauensloser. Hinzu kommt, dass dann im schlimmsten bei jedem kleinsten Streit, Missverständnis einfach der Weg des Ghostings gewählt wird, was unsere Konfliktkompetenz vollkommen verkümmern ließe. Ebenso ist die Absicht, andere einfach ohne Ankündigung vor vollendete Tatsachen zu stellen, sicher auch nicht wünschenswert und verallgemeinerungsfähig. Kantisch lässt sich also ghosten grundlegend nicht rechtfertigen.
In der utilitaristischen Ethik geht es um die Konsequenzen des Handelns, um das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl (Singer, 2013; kritisch Arendt: 1972). Hier sorgt das Ghosting natürlich dafür, dass die Glücksbilanz der Person die ghosted, zunächst maximiert wird, während die der anderen Person minimiert wird. Denn wenn ein Ghosting durchgeführt wird, ist ja dann keine weitere Interaktion gegeben, und es hat ja sicher irgendetwas unangenehmes oder ambivalentes in der anderen Person gegeben, was dann ja aufgehoben ist. Jedoch dürfte die ghostende Person dies relativ bald vergessen und zur Tagesordnung übergehen. Demgegenüber hat die geghostete Person dieses starke Gefühl der Zurückweisung und Ratlosigkeit, welches für gewöhnlich auch aufgrund des Zeigarnik-Effektes andauert und wohl deutlich intensiver empfunden wird. Wenn die andere Person jedoch absolut negativ besetzt ist, dann kann das Ghosting sogar eine heilsame Wirkung haben. Utilitaristisch gilt also: es kommt auf den jeweiligen Fall an, ob das Ghosting ethisch rechtfertigbar ist.
In der Tugendethik geht es darum, inwieweit ein Verhalten dazu dient, positiv besetzte Charaktertu-genden herauszubilden, die vor allem durch das Handeln entwickelt werden (Sandel, 2015; Kleger, 2015; Gogon: 2004). Gerade tugendethisch erscheint unklar, welche Tugenden durch ein derartiges Verhalten herausgebildet werden sollten. Denn Nichtkommunikation, Konfliktvermeidung, Bequemlichkeit und manchmal sicher auch fehlende Ambiguitätstoleranz, die wesentlichen Gründe für das Ghosting, stellen allesamt keine charakterlichen Tugenden dar. Im Gegenteil, derartige Untugenden werden durch das Ghosting noch viel stärker als ohnehin schon bestehend verstärkt, weshalb Ghosting aus einer tugendethischen Perspektive definitiv abzulehnen ist.
Das impliziert, dass Ghosting ethisch kaum rechtfertigbar ist, wenn überhaupt, dann fallbasiert utilitaristisch. Aber weder kantianisch und schon gar nicht tugendethisch ist dieses Nichtverhalten des Ghostings legitimierbar, und es widerspricht zumindest für die Mehrzahl der Gesellschaft der goldenen Regel der Ethik: Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden willst.
Es gibt Alternativen zum Ghosten
Nämlich miteinander zu reden, das klärende Gespräch, auch die klare Abgrenzung. Auch einfach zu sagen, warum genau es keinen Wunsch gibt, einen bestimmten Kontakt fortzusetzen. Das ist sicher manchmal kurzfristig anstrengender, schafft aber Klarheit und letztlich auch Sicherheit, und es gibt einer Person vor allem die Möglichkeit, aus der Situation zu lernen und zu wissen, was man hätte anders machen können.
Eine Alternative hierzu wäre der angekündigte Kontaktabbruch, bei dem auch deutlich gemacht wird, warum genau er vollzogen wird. Das schafft wenigstens Klarheit.
Das Beste ist aber natürlich, einen Konflikt, eine Meinungsverschiedenheit, eine Verletzung etc. zu klären, um dann gar nicht erst die Notwendigkeit der Distanzierung zu haben.
Literatur:
Arendt, Hannah (1972). Vita activa. Oder vom tätigen Leben. München: Piper.
Gogon, Olaf (2004). Aristoteles Nikomachische Ethik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Haidt, Jonathan (2012). The righteous mind. Why good people are divided by politics and religion. New York: Basic Books.
Jaeggi, Raher (2014). Kritik von Lebensformen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Kleger, Heinz (2015). Tugendethik ohne Tugendterror. Potsdam: Verein Neues Potsdamer Toleranzedikt.
Neyer, Franz & Asendorpf, Jens (2018). Psychologie der Persönlichkeit. Berlin: Springer Wissenschaft.
Pauer-Studer, Herlinde (2010). Einführung in die Ethik. Wien: WUV Verlag.
Pörksen, Bernhard & Schulz von Thun, Friedemann (2020). Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Politik und Gesellschaft. München: Kunstmann.
Pörksen, Bernhard (2019). Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München: Kunstmann.
Rheinberg, Falko (2002). Motivation.
Rosa, Hartmut (2012). Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Roth, Gerhard (2015). Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Stuttgart: Klett-Cotta.
Sandel, Michael (2015). Politik und Moral. Wie wir das Richtige tun.
Schulz von Thun, Friedemann (2008a). Miteinander Reden. Band I: Hamburg: Rowohlt.
Schulz von Thun, Friedemann (2008b). Miteinander Reden. Band III. Hamburg: Rowohlt.
Singer, Peter (2013). Praktische Ethik. Stuttgart: Reclam.