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Die Anomie der Silvesternacht – eine Ursachen- und Diskursanalyse

Einleitung: Anomie, oder wenn die Normen erodieren

Es ist ein kulturell tradierter Brauch, mit Böllern und Raketen böse Geister vertreiben zu wollen. Dieser ist eigentlich in einer durch die Rationalisierung und Säkularisierung geprägten Gesellschaft (Weber: 1992) nicht mehr nötig, wird aber dennoch weiterhin betrieben, weil dies für viele durch Gewohnheit einfach zu Silvester „dazugehört“. Zweitens stellen die Feuerwerkshersteller auch einen Wirtschaftszweig dar, und lassen hier auch ihren Einfluss geltend machen. Drittens ist Feuer, auch die Gefahr, durchaus faszinierend, und erfüllt unser menschliches Bedürfnis nach Sensation Seeking (vgl. Roth: 2015), der Suche nach starken und intensiven Eindrücken.

Dieses Silvester ist allerdings deutlich aus dem Ruder gelaufen. Nicht mehr nur fahrlässig, sondern vorsätzlich wurden Polizei- und Rettungskräfte angegriffen, an verschiedensten Orten der Republik und mit unterschiedlicher Intensität. Allerdings, und das ist quantitativ neu: mit systematischem Vorsatz. Das heißt, dass die alte Norm, mittels Feuerwerk niemanden zu gefährden, und erst Recht jene, Rettungskräfte zu unterstützen, statt zu behindern, erodiert. Diesen Verfall der allgemeinen Ordnung und der bisher tragenden Sitten eine Gesellschaft wurde vom französischen Soziologen Emile Durkheim als Anomie bezeichnet (vgl. Heitmeyer: 2019; Durkheim: 1977). Diese hat, wie die Silvesternacht hervorbrachte, ein ganz neues Ausmaß erreicht, und genau dieses ist erklärungsbedürftig.

Die politisierte Migrationshypothese als schnelle Erklärung

Natürlich bedarf es nun schneller Erklärungen für solche Gewaltexzesse, und sehr schnell gab es eine diskursive Stoßrichtung, in der Migrantinnen und Migranten, bzw. eine nicht gelungene Integration verantwortlich gemacht wurde. Auffällig war, dass insbesondere konservative Politiker wie Friedrich Merz und der CDU/CSU-Fraktionsvize Jens Spahn solche Erklärungen sehr schnell verbreiteten, nicht nur die üblichen Verdächtigen von NPD und AfD. Sie scheinen dabei zu vergessen, dass die Übernahme rechtspopulistischer Narrative Konservativen eher schadet, und somit auch die selbst verordnete Brandmauer gegen rechts erodiert.

Natürlich waren junge Menschen mit Migrationshintergrund in die Attacken involviert. Jedoch gab es solche Übergriffe nicht nur in Berliner Stadtteilen mit hohem Migrationshintergrund, sondern bundesweit, auch in Städten mit geringem Ausländeranteil wie in Görlitz. Es gibt definitiv einen Kern von Menschen mit Migrationshintergrund, der diesen Staat und seine Regeln verachtet. Allerdings lässt sie die Täterschaft nicht genau rekonstruieren, und die Kategorie „junge Männer“ wäre statistisch treffsicherer. Die vielen Enttäuschungserfahrungen, lange Kettenduldungen, viele Hürden auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt werden dieses Verhalten mit hervorgerufen haben (was es dennoch definitiv nicht entschuldigt). Dennoch ist es definitiv unterkomplex und eher politisch motiviert, das Geschehen auf die Migrationsfrage zu reduzieren, auch wenn dies mit eine Rolle spielt. Diese diskursive Instrumentalisierung hat sicher auch mit der anstehenden Abgeordnetenhauswahl in Berlin im Februar zu tun, bei der sich die Konservativen politische Geländegewinne versprechen.

Generalisiertes Institutionenmisstrauen als Alternativerklärung

Was wir immer wieder feststellen können, in den verschiedensten Umfragen, jüngst in der Leipziger Autoritarismusstudie 2022, ist ein Phänomen, welches sozialwissenschaftlich als generalisiertes Institutionenmisstrauen bezeichnet wird (Decker/Kiess/Heller/Brähler: 2022). Dies drückt sich darin aus, die bestehenden Institutionen und ihre entsprechenden Repräsentantinnen und Repräsentanten zu verachten. Solches Verhalten zeigt sich zum Beispiel bei Anhängern von Verschwörungserzählungen sehr intensiv (Butter: 2018). Dieser Glaube an Verschwörungserzählungen geht dann mit einer höheren Abwertungsbereitschaft einher (Decker/Kiess/Heller/Brähler: 2022). Und wen ich abwerte, den kann ich auch leichter angreifen. Die entsprechenden kognitiven Dissonanzen oder gar Schuldgefühle, die so etwas sonst verhindert hätten, sind schlicht nicht da.

Allerdings kann dieses generalisierte Institutionenmisstrauen auch schlichtweg Ausdruck einer objektiven oder gefühlten Benachteiligung sein (Mau: 2020; Reckwitz: 2018). Wenn man sich nicht wertgeschätzt oder herabgesetzt fühlt, als Verlierer der Gesellschaft, so kann man in einer solchen Nacht den Spieß zumindest gefühlt umdrehen, und ein Gefühl generalisierter Machtlosigkeit in temporäre Macht umtauschen. Der Ausgangspunkt ist jedoch das generalisierte Institutionenmisstrauen als Antwort darauf, sich selbst nicht wertgeschätzt zu fühlen. Hier können sich auch unterschiedliche Milieus treffen, was auch erklären würde, warum es die Silvesterkrawalle an solch unterschiedlichen Orten gab. Dazu passend sind die Zustimmungsraten zu den verschiedensten politischen Institutionen, aber auch zur Demokratie, wie sie aktuell funktioniert, auf einem historischen Tiefstand.

Die Hypothese der Gewalt als handlungsleitender Ausdruck des generalisierten Institutionenmisstrauens ist bisher im politischen Diskurs unterrepräsentiert.

Die Katharsishypothese: Krawalle als Handlungsausdruck des Dissenses

In einer Demokratie gibt es stets Mehrheiten und Minderheiten. Allerdings besteht Politik ja darin, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen (Luhmann: 2002), die dann auch für die Minderheit zu gelten haben.

Es gab in jüngster Zeit viele getroffene Entscheidungen, welche Minderheiten frustriert haben. Zuallererst ist hier an Entscheidungen innerhalb der Pandemie zu denken. Die Coronapolitik hat zu erheblichen gesellschaftlichen Polarisierungen geführt (Kersten: 2021), wie nicht nur die montäglichen Demonstrationen gezeigt haben. Proteste wie in Leipzig Ende 2020 sind auch stark gewaltsam geendet.

Auch bezüglich des Russland-Ukraine-Krieges besteht teils erheblicher Dissens (Gaborowitsch: 2022; Deitelhoff: 2022). Erstens natürlich in der Frage der Einordnung des Krieges, zweitens allerdings auch in der Frage der Konsequenzen. Schwere Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet in unmittelbarer Nähe sind in Deutschland natürlich eine „Zeitenwende“, und mit dieser sind naturgemäß nicht alle einverstanden.

Die Besonderheit bei beiden Themen, sowohl der Pandemie als auch dem Krieg, ist, dass diese Themen sehr stark emotional besetzt sind. Bei beiden geht es um Grundlegendes, und bei beiden sitzt die Frustration tief, da bestehende Werte von Menschen durch getroffene Entscheidungen verletzt wurden (Haidt: 2012). Dies kann dann auch sehr leicht zu einem Gefühl von „Wir gegen die“, bzw. „Wir gegen das System“ führen, zu einem postmodernen Stammesdenken (Greene: 2014), welches sich dann durchaus auch in Krawalle äußern kann.

Eine Theorie, mit der sich dieses Phänomen erklären lässt, ist die Katharsistheorie aus der Tiefenpsychologie. Katharsis meint eigentlich eine „Reinigung“. Es geht allerdings im Kern um das Ausagieren von Affekten, insbesondere auch negativen Affekten, auch durch Aggression. Katharsis ist das, was wir im Alltag als ein „es musste einfach mal raus“ kennen. Es kann sehr gut sein, dass das Level an Frustration sehr hoch war, und jetzt die Gelegenheit günstig erschien. Das bedeutet, dass die Krawalle der Silvesternacht der Preis für die relative Ruhe der letzten Monate trotz gesellschaftlicher Polarisierung war.

Tugend ist ein Mangel an Gelegenheit“: Die Situationshypothese

Möglicherweise ist zumindest ein Teil der Erklärung deutlich banaler. Der Psychologe Kurt Lewin hat Verhalten mit seiner berühmten Gleichung „Verhalten=(Person, Umwelt)“ (Kirchner: 2021) beschrieben. Das bedeutet, dass Verhalten eben nur teilweise durch die jeweilige Persönlichkeit erklärbar ist, zu einem relativ großen Bestandteil jedoch durch die Situation. Dies entspricht auch sehr stark dem soziologischen Denken (Schimank: 2021). Die Situationshypothese wurde von Christian Morgenstern auf den Punkt gebracht: „Tugend ist ein Mangel an Gelegenheit“. Folglich war Silvester eine gute Gelegenheit für Untugend, und diese haben wir erleben müssen.

In der Tat waren die Umstände für Krawalle sehr günstig: Dunkelheit, dadurch dass viele mitgemacht haben eine entsprechend geringe Verantwortungsdiffusion und entsprechend geringe Entdeckungswahrscheinlichkeit, Alkohol und eine aufgepeitschte Stimmung. Auch ein Gefühl von Langeweile dürfte eine Rolle gespielt haben. Und mittels Pyrotechnik lässt sich eine entsprechende Wirkung erzielen, die aber zumindest nicht als lebensgefährlich erscheint. Hinzu kommt, dass diese Gelegenheit die letzten beiden Jahre aufgrund des Böllerverbotes nicht mehr gegeben war, und sich dadurch auch einiges an sensation seeking aufgestaut hat (siehe Katharsis-Hypothese).

Das Grundproblem der Situationshypothese ist allerdings, dass sie nicht die neue Qualität des Vorsatzes erklären kann, denn eine günstige Situation gab es vor 2019 jedes Jahr, aber dennoch nicht solche Krawalle.

Fazit: Es ist multifaktoriell, aber ein Alarmsignal

Wahrscheinlich haben wir es mit einem Zusammenwirken von Migration, generalisiertem Institutionenmisstrauen, Katharsis und situativer Günstigkeit zu tun. Was wie stark gewirkt hat, werden wir kaum rekonstruieren können, schon allein, weil die Akteure dieser Nacht sich kaum freiwillig für wissenschaftliche Befragungen bereit erklären werden. Klar ist allerdings, dass bestimmte Normen und Standards in der Gesellschaft einreißen. Feuerwerk auf Rettungskräfte ist ein sicheres Zeichen von Anomie, unabhängig von den Ursachen.

Nur eine dieser Ursachen anzuführen, ist eher interessengeleitet denn nach Erkenntnis suchend. Dennoch sollte an allen Ebenen angesetzt werden: bei verbesserter gesellschaftlicher Integration, bei der Schaffung von Vertrauen in staatliche Institutionen, beim Aushalten und Kanalisieren von politischem Dissens, aber auch bei der Bekämpfung rechtsfreier oder gefühlt rechtsfreier Räume. Ein Böllerverbot liegt politisch durchaus nahe, würde allerdings letztlich dazu führen, dass die Anomie sich an anderen Stellen zeigt. Die Silvesternacht dürfte fortan ein Indikator unserer gesellschaftlichen Verfasstheit werden.

Literatur

Butter, Michael (1998). „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Berlin: Edition Suhrkamp.

Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Heller, Ayline/Brähler, Elmar (2022). Autoritäre Dynamik in unsicheren Zeiten. Leipziger Autoritarismusstudie 2022. Gießen: Psychosozial Verlag.

Deitelhoff, Nicole (2022). Zurück auf Null. Putins Krieg und die Europäische Sicherheitsordnung. Blätter für deutsche und internationale Politik, (6), S. 69-76.

Durkheim, Emile (1977). Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.

Gaborowitsch, Mischa (2022). Von „Faschisten“ und „Nazis“. Russlands Geschichtspolitik und der Angriff auf die Ukraine. Blätter für deutsche und internationale Politik, (5), S. 55-62.

Greene, Joshua (2014). Moral Tribes. Emotion, Reason, and the gap between us and them. Penguin Books.

Haidt, Jonathan (2012). The righteous mind. Why good people are divided by politics and religion. New York: Basis Books.

Heitmeyer, Wilhelm (2019). Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung. Berlin: Edition Suhrkamp.

Kersten, Jens (2021). Leben wir in der Virokratie? Wie sich in der Pandemie unsere Demokratie bewährt. Blätter für deutsche und internationale Politik, (5), S. 87-96.

Kirchner, Moritz (2021). Der Klo-Psychologe. Berlin: Ullstein Verlag.

Luhmann, Niklas (2002). Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.

Mau, Steffen (2020). Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin: Edition Suhrkamp.

Nocun, Katharina/Lamberty, Pia (2021). Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. Köln: Bastei Lübbe.

Reckwitz, Andreas (2018). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Roth, Gerhard 82015). Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Stuttgart: Klett-Cotta.

Schimank, Uwe (2021). Soziales Handeln und Strukturdynamiken. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. Hagen: FernUniversität in Hagen.

Von Lucke, Albrecht (2020). Widerstand 2020: Wer reitet die Corona-Welle? Blätter für deutsche und internationale Politik, (6), S. 5-8.

Weber, Max (1992). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie.