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Die russische Aggressionspolitik gegenüber der Ukraine und dem Westen, und wie reagiert werden sollte

Von einem kurzen kalten Krieg direkt in einen heißen Krieg?

Wohl noch nie seit dem Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation hat es eine derart gefährliche Konfrontation wie aktuell an der russisch-ukrainischen Grenze gegeben, abgesehen natürlich von der bereits geschehenen Einverleibung der Ost-Ukraine durch Russland (Snyder: 2018). Nach einer starken Entfremdung in den letzten beiden Jahren Jahrzehnten hat sich In den letzten Monaten der Ton zwischen Russland und der NATO nochmals enorm verschärft, der NATO-Russland-Rat hat zweieinhalb Jahre nicht getagt. Russland hat sich in den letzten beiden Dekaden in immer stärkerem Maße von einer präsidialen Demokratie zu einem autoritären Regime verändert (Laruelle: 2014; Harari: 2018; von Lucke, 2014), und es hat sich nicht nur vom Westen abgewandt, sondern definiert sich sowohl politisch als auch kulturell zunehmend im Gegensatz zu ihm (Snyder: 2018).

Sowohl in der russischen Sicherheitsdoktrin als auch in der Bewertung Russlands seitens der NATO haben sich insbesondere seit der russischen Annexion der Krim die Zeichen auf Gegnerschaft gesetzt (Kagan: 2021; Moniz/Nunn: 2020). Es sind derzeit mehr als 100.000 russische Soldaten an der ukrainischen Grenze stationiert, und die Drohung einer Invasion steht unverhohlen im Raum. Russland stellt sehr hohe und für die NATO inakzeptable Forderungen, wie den Abzug von Waffen aus den östlichen Mitgliedsstaaten wie dem Baltikum, dem Verzicht auf Manöver und einen Aufnahmestopp für neue Mitglieder. Faktisch soll die NATO an den Grenzen zu Russland nicht mehr das sein können, was sie vom Wesen und Auftrag her ist: ein militärisches Verteidigungsbündnis. Was hierbei unterschlagen wird, ist, dass Russland genau das, was es für sich selbst einfordert, gegenüber anderen Staaten im exakten Gegenteil macht, sei es durch frühere Annexionen, massenhafte Truppenaufmärsche sowie die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten (z.B. durch Hackerangriffe).

Natürlich hat sich die Situation auch für Russland dadurch verändert, dass die NATO an ihre Grenzen gerückt ist, was jedoch die souveräne Entscheidung ostmitteleuropäischer Staaten war. Derzeit ist unklar, wie genau die aktuelle Eskalation beseitigt werden kann, denn es gibt natürlich auch die russische Erwartung, dass ein Teil ihrer Forderungen erfüllt werden wird. Ebenso ist die Gefahr, das jetzt unintentional bestimmte Vorkommnisse geschehen kann. Die Gefahr eines heißen Krieges ist real.

Die postimperiale Depression Putins und ihre Wirkung auf die russische Außenpolitik

Die spannende Frage ist ja, was genau die Antreiber der hochgradig konfrontativen und expanisven russischen Politik ist. Hier spielt, gerade in einem stark präsidialem politischen System wie Russland, ein ganz persönliches Motiv des russischen Präsidenten Putin, nämlich die Wiederherstellung russischer Größe, letztlich des sowjetischen Imperiums (vgl. Priestland: 2009). Das Phänomen, welches den Kern beschreibt, ist eine postimperiale Depression, wie sie sich auch in anderen Ländern wie der Türkei oder Großbritannien findet (Appadurai: 2017), aber nirgendwo derart politisch determinierend ist wie in Russland.

Wladimir Putin hat den Zusammenbruch der Sowjetunion einst als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet und offenkundig nicht verwunden. Er sieht, und das haben die entsprechenden Interventionen in Dagestan, im Kaukasuskrieg, auf der Krim, in der Ostukraine und an vielen anderen Orten gezeigt, den gesamten postsowjetischen Raum aus legitimes Einfluss- und Interessengebiet, in dem auch andere Staaten gegenüber Russland nicht wirklich souverän sind. Teils wurde dies auch mit entsprechenden Bündnisstrukturen versehen, wie der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS), der jetzt in Kasachstan zum Einsatz kam, und dem zum Beispiel die Ukraine niemals beigetreten ist.

Neben dem Wunsch, von innenpolitischen Problemen wie der stark im Land grassierenden Coronakrise oder der zunehmenden Spaltung in Arm und Reich durch außenpolitische Manöver (Krim-Annexion, Syrien-Intervention etc.) abzulenken, ist es wesentlich die Wiederherstellung der alten Größe, sowohl der Sowjetunion, als auch die Anrufung zum Beispiel der früheren Kiewer Rus, die zeigen, wie Putin seine Retrotopie (vgl. Shevtsova,2015), das Wiederaufleben einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit zur Leitschnur seines Handelns macht. Timothy Snyder hat dies „Politik der Ewigkeit“ genannt (Snyder:2018).

Die eklatanten Widersprüche der russischen Außenpolitik

Dabei sind die Widersprüche der russischen Forderungen, ja der russischen Außenpolitik eklatant.

Erstens: Russland sieht sich selbst durch Soldaten an seiner Grenze bedroht, hat aber kein Problem damit, Soldaten über die Grenze zu schicken, wie es auf dem Krim und in der Ostukraine geschah.

Zweitens: Russland wünscht sich, mit stark bewaffneten Truppen, dass andere Länder an seiner Grenze möglichst entmilitarisiert werden. Dabei besteht ja deren Bedürfnis nach Schutz genau deshalb, weil Russland hier solche Truppenaufmärsche veranstaltet, und in der Vergangenheit ja auch mehrfach gezeigt hat, dass es auch bereit ist, diese Truppen einzusetzen. Russland verlangt für sich Sicherheitsgarantien, schafft aber durch sein Handeln für andere Nachbarstaaten eine Unsicherheitsgarantie.

Drittens: Russland beruft sich immer wieder darauf, dass der Westen sein Wort gebrochen habe, indem sich die NATO immer weiter nach Osten ausgedehnt habe (vgl. Pradetto:2019). Ob es hier feste Zusagen gegeben hat, ist bis heute nicht eindeutig. Klar ist allerdings, dass das russische Handeln gegenüber seinen Nachbarstaaten den Grundprinzipien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa(OSZE) widerspricht, vor allem aber, dass Russland sich im Budapester Memorandum völkerrechtlich bindend zur territorialen Unverletztlichkeit der Ukraine bekannt hat, als Gegenleistung auch dafür, dass diese ihr Atomwaffenarsenal abgab. Das bedeutet, der immer wieder unterstellte Wortbruch des Westens ist unklar, jener Russlands explizit, und das Narrativ der Nichtverlässlichkeit trifft Russland selbst.

Viertens: Russland betont immer wieder das Prinzip der Nichteinmischung in die Souveränität anderer Staaten (vgl. Gädeke: 2017), aber spricht erstens bestimmten Staaten wie der Ukraine diese ab und unterminiert sie, und will die freie und souveräne Entscheidung von Staaten revidieren, Teil der NATO zu werden. Die Frage ist also: warum hält Russland ein Prinzip hoch, welches es gegenüber anderen Staaten immer wieder missachtet, bis hin zu Annexionen von Staatsterritorien?

Fünftens: Russland will möglichst keine Soldaten und die NATO an seiner Grenze, aber schafft durch sein Handeln exakt die Voraussetzungen dafür. Denn natürlich kann ein kollektives Verteidigungsbündnis, welches für die baltischen Staaten als Mitgliedsländer der NATO in der Pflicht steht, nicht einfach zusehen, wenn Russland riesige Militärübungen wie „Zapad“ 2021 mit insgesamt 200.000 Soldaten abhält. Inzwischen diskutieren, angesichts der russischen Aggressionen und Provokationen, selbst die traditionell neutralen Länder wie Finnland und Schweden einen NATO-Beitritt.

Sechstens: Russland betont immer wieder das Völkerrecht, und wirft dem Westen vor, dieses an verschiedenen Stellen wie dem Kosovokrieg (Becker/Engelberg: 2020), dem Irak-Krieg mit der „Koalition der Willigen“ (Blaschke: 2015) und dem Libyen-Einsatz dieses Völkerrecht gebrochen zu haben. Dies ist auch ein durchaus valider Kritikpunkt (Kipping: 2016). Jedoch ist vollkommen uneinsichtig, warum die Reaktion darauf dann der multiple Bruch des Völkerrechts ist. Wenn man ehrlich zugeben würde, dass es einem um eine postwestfälische Ordnung, um eine postregelbasierte, postmultilaterale Ordnung, um ein Recht des Stärkeren ginge. Hierbei ist allerdings fairerweise zu sagen, dass dies in den USA unter Donald Trump genauso geschah (Browning: 2018), dennoch ist der russische Verweis aufs Völkerrecht angesichts des eigenen Handelns mehr als nur bigott.

Was tun

Die russische Außenpolitik ist also offenkundig hochgradig problematisch und kontradiktorisch. Dennoch muss mit ihr umgegangen werden, und es gilt, alles daran zu setzen, um einen heißen Krieg zu verhindern. Die russische Strategie ist relativ eindeutig und heißt: Erpressung. Mit der unverhohlenen Kriegsdrohung möchte Russland massive Zugeständnisse geben, welche für die USA und die NATO außerhalb dessen sind, was man in der Verhandlungspsychologie als „Zone der möglichen Einigung“ (Fisher/Melvin/Patton: 2019) bezeichnet.

Dennoch kann man Russland natürlich nichts anbieten, denn das wäre für Putin ein Zeichen der Schwäche, und dann könnte es, über den jetzigen Hacker-Angriff auf die Ukraine hinaus, zur für ihn gefühlten Notwendigkeit kommen, militärisch etwas zu unternehmen.

So ist es möglich, den Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft sowie auf Waffenlieferungen an die Ukraine im Gegenzug für den Abzug der massiven russischen Streitkräfte an der Grenze zu bekommen. Mit dem Minsker Abkommen gibt es ja theoretisch bereits einen Fahrplan für den Russland-Ukraine-Konflikt, der wiederbelebt werden kann. Ebenso kann der NATO-Russland-Rat wieder richtig institutionalisiert werden, um Russland das angestrebte Weltmachtgefühl zu geben. Mehr aber geht nicht, und darf es auch nicht geben, denn sonst hätte es ja funktioniert, mit entsprechenden Kriegsdrohungen Zugeständnisse zu erzwingen, die es sonst nicht gegeben hätte.

Es braucht tatsächlich diese Mischung aus Dialogbereitschaft und Härte, die klare Androhung scharfer Konsequenzen im Falle einer erneuten Ukraine-Invasion, sowie das Aufzeigen dessen, dass dieser erneute Tabubruch wohl nur noch mehr Staaten unter den Schutzschirm der NATO bringen wird. Angesichts dieser neoimperialen Politik, dieser prämodernen Praktik, mit Armeen Grenzen verschieben zu wollen, lässt sich eines für den Westen festhalten: Appeasement gegenüber Putin ist keine Option.

Literatur:

Appadurai, Arjan (2017). Demokratiemüdigkeit. In Geiselberger, Heinrich (Hg.). Die Große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Edition Suhrkamp. S.17-36.

Becker, Jens/Engelberg, Achim (2020). Im Fadenkreuz der Großmächte. Der Balkan und die Krisen der EU. Blätter für deutsche und internationale Politik, 1, S. 107-113.

Blaschke, Björn (2015).The New Middle Beast. Saudi-Arabien vs. Iran. Der Kampf um die Vorherrschaft im Mittleren Osten. Blätter für deutsche und internationale Politik, S.45-53.

Browning, Christopher (2018). Weimar in Washington: Die Totengräber der Demokratie. Blätter für deutsche und internationale Politik, 11, S. 41-50.

Fisher, Walter/Ury, Melvin/Patton, William (2019). Das Harvard-Konzept. Die unschlagbare Methode für bessere Verhandlungsergebnisse. München: Deutsche Verlags Anstalt.

Gädeke, Dorothea (2017). Politik der Beherrschung. Eine kritische Theorie externer Demokratieförderung. Berlin: Suhrkamp.

Harari, Yuval Noah (2018). 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. München: Beck.

Kagan, Paul (2021). Zur Supermacht verdammt. Warum die Führungsrolle der USA unerlässlich ist. Blätter für deutsche und internationale Politik, 4, S. 63-75.

Kipping, Katja (2016). Wer flüchtet schon freiwillig? Die Verantwortung des Westens und warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss. Frankfurt am Main: Westend.

Laruelle, Marlene (2020). Making Sense of Russia´s Illiberalism. Journal of Democracy, 3, S. 115-129.

Moniz/Ernest/Nunn, Sam (2020). Aufrüstung statt Dialog: Vor der nuklearen Apokalypse? Blätter für deutsche und internationale Politik, 2, S. 51-52.

Pradetto, August (2019).70 Jahre Nato. Von der Konfrontation zur Integration und wieder zurück. Blätter für deutsche und internationale Politik, 4, S. 93-102.

Priestland, David (2009). Weltgeschichte des Kommunismus.

Shevtsova, Lilia (2015. Forward tot he past in Russia. Journal of Democracy, 2, S. 22-36.

Snyder, Timothy (2018). Der Weg in die Unfreiheit. Russland Europa Amerika. München: Beck.

Von Lucke, Albrecht (2014). 25 Jahre 1989: Demokratur schlägt Demokratie. Blätter für deutsche und internationale Politik, 11, S. 5-8.