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Ein polemisch-humanistischer politischer Jahresrückblick auf 2022

2020-2022: Die politische Antiklimax

2020 ging man frohen Mutes ins neue Jahr, und hoffte, dass es besser wird als das alte. Es gab da irgendeine Krankheit in China, aber da fällt ja auch der berühmte Sack Reis um. Und dann kamen: Lockdowns, Schulschließungen, eine neue Blüte von Verschwörungsmythen (vgl. Butter: 2018), und nach einer ersten Welle der Solidarität (Decker: 2020) dann spätestens in der zweiten enorme gesellschaftliche Polarisierungen. Nächstes Jahr konnte nur besser werden.

2021 beginn mit einem Impfnationalismus und Impfeuropäismus, der unglaublich war (Aronoff: 2020). Die Industrieländer rissen sich die guten Sachen unter den Nagel, von globaler Solidarität oder Kooperation keine Spur. Dann war es dann heftig, dass insbesondere im Winter anscheinend nicht aus den Fehlern des Vorjahres gelernt wurde. Keine flächendeckenden Luftfilter, teils hingen wir immer noch bei der Digitalisierung mächtig hinterher (Lender: 2019). Immerhin gab es eine neue Regierung und damit die Möglichkeit, aus der Lethargie der Großen Koalition herauszugehen. Der Koalitionsvertrag versprach insbesondere gesellschaftspolitisch tatsächlich einen Aufbruch (Anerkennung unterschiedlicher Familienmodelle, erleichterte Einbürgerung, Legalisierung von Cannabis; vgl. von Lucke: 2021). Dennoch ging man in diesen Winter und dachte sich: warum genau hatte man nicht die Zeit im Sommer genutzt, um sich auf das Absehbare vorzubereiten. 2022 konnte also eigentlich nur noch besser werden.

Doch so wie Ende 2019 irgendeine Krankheit irgendwo in China nur als eine abstrakte Bedrohung wahrgenommen wurde, so waren knapp 200.000 russische Soldaten an der ukrainischen Grenze auch nur eine gefühlte Bedrohung, viele dachten diese seien einfach nur eine Verhandlungstaktik. Sahra Wagenknecht erklärte noch am 20.02.2022 bei „Anne Will“, dass Putin ja eigentlich Frieden wolle. Und dann: Zeitenwende, wieder Krieg in Europa. Die Klimax der Sinnlosigkeit, „Befreiung“ durch Vernichtung und massive Zivilisationsbrüche, weil ein weißer alter Neozar sich die mythische Vergangenheit herbeibomben und von innen- und wirtschaftspolitischem Versagen ablenken will (Belton: 2022; Snyder: 2018). Dabei werden nicht nur wie damals schon in Syrien grausamste Kriegsverbrechen begangen, sondern die eigene Bevölkerung in einer Teilmobilmachung verheizt. Wer das alles kritisiert, muss damit rechnen, jeden Moment aus Versehen aus dem Fenster zu stürzen. Damit die russischen Oligarchen nicht aufbegehren, mussten einige von Ihnen als abschreckendes Beispiel unter ungeklärten Umständen sterben. Und sein alter narzisstischer Kumpel, der Inbegriff der Korrumpiertheit als Altkanzler, Gerhard Schröder, erklärt ernsthaft: „mea culpa ist nicht so mein Ding“. Dabei ist es genau seine Schuld, sich vor den russischen Karren gespannt haben zu lassen. Während Frank-Walter Steinmeier glaubwürdig mit seiner persönlichen Verantwortung für die gescheiterte Russland-Politik aufräumte und Matthias Platzeck am 01.03. als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums zurücktrat, bleibt Gazprom-Gerd sich treu: Gerhard zuerst, von Verantwortung keine Spur. Hinzu kamen 2022 noch: eine in Teilen neofaschistische Regierung in Italien, US-Republikaner auf dem Weg zur Politsekte und eine nahezu sinnlose Weltklimakonferenz COP 27, die dafür sorgen, dass man sich eigentlich nur denken kann: 2023 muss besser werden. Eigentlich kann es nicht sein, dass es immer schlechter wird. Dennoch kann aufgrund der sich verstärkenden Vielfachkrisen genau dies leider geschehen. Es ist immer noch vollkommen unklar, wie der russische Angriffskrieg enden soll, die nächste Krise lässt sich nicht mehr so leicht mit Geld zuschütten, und die Kräfte der gesellschaftlichen Solidarität sind so langsam erschöpft. Vor allem aber: es sinkt weiterhin das Demokratievertrauen (Decker/Kiess/Heller/Brähler: 2022). Das sind besonders schlechte Nachrichten in unsicheren Zeiten.

Ein Rückblick durch die Parteienlandschaft

Bei der LINKEN nix neues: Streit und strategische Orientierungslosigkeit. Was sich verändert hat, ist, dass das zweite Mal nach „Aufstehen“ wieder eine Spaltung der Partei im Raume steht. Spaltungen sind, gerade historisch gesehen, mit Sicherheit das, was die politische Linke nicht braucht. Sahra Wagenknecht polarisiert und bedient sich mit ihrer Ressentimentmobilisierung, ihren klaren Freund-Feind-Schemata und der beständigen Abwertung der politischen Mitbewerber nahezu eins zu eins aus dem politischen Methodenkoffer des Rechtspopulismus (Hillje: 2018). Dennoch ist die Angst vor dem Schnitt zu groß seitens der Parteiführung, die insgesamt blass ist. Die Verwicklung in #metoo und die breite Ablehnung des Pazifismus angesichts des russischen Angriffskrieges haben DIE LINKE in eine Situation gebracht, mit der sie strukturell nicht umgehen können: dass sie sich nicht selbst moralisch über andere erhöhen können, sondern ihnen teils erheblich unterlegen sind.

Für die SPD gab es im Saarland und in Niedersachsen überzeugende Wahlsiege, dazwischen sah es mau aus. Dass Lars Klingbeil eine deutsche Führungsrolle in Europa wollte, auch militärisch, war bemerkenswert, und wurde sehr wohl (und erstaunlichst wohlwollend) in Europa registriert, ging aber hierzulande vollkommen unter. Olaf Scholz hat es mit der rhetorischen Technik des zuscholzens (einfach so lange antworten, bis man nicht mehr weiß, was man eigentlich gefragt hat) geschafft, viel Kritik im Keim zu erstecken, und die „Respekt“ Kampagne zeigt sich jetzt in Milliardenhilfen für sehr viele Menschen trotz offizieller Schuldenbremse, die wieder eingehalten werden soll. Die Erinnerungslücken von Scholz im Cum-ex-Skandal dürften im neuen Jahr weniger glaubhaft werden, aber von einem sozialdemokratischen Jahrzehnt ist wenig zu sehen.

Die Grünen haben stark angefangen. Insbesondere Annalena Baerbock hat sich schnell ein Standing erarbeitet, dass ihr kaum jemand zugetraut hat nach dem verunglückten Bundestagswahlkampf. Allerdings war der Umgang mit der Causa Anne Spiegel wenig souverän (was zum Glück weitgehend vergessen ist), und die Grünen profitieren sehr davon, dass die Wählerinnen und Wähler ihnen Kurswechsel angesichts der Zeitenwende (Waffenlieferungen an die Ukraine, Restlaufzeiten AKW, Kohle wieder ans Netz) als Pragmatismus und staatspolitische Verantwortung auslegen. Dennoch haben die anderen Parteien es erfolgreich geschafft, die Grünen zu den Sündenböcken für die Energiepreise zu machen, und Robert Habecks Höhenflug endete mit der konzeptionell verunglückten Gapreisumlage.

Für die Grünen wird es perspektivisch erstens die Hypothek geben, dass es zur Neuauflage des Duells Annalena Baerbock gegen Robert Habeck um die K-Frage kommen wird, diesmal allerdings nicht unter freundschaftlichen Vorzeichen. Zweitens kommt das Nachfolgeduo beim Parteivorsitz nicht an die Wirkung von Habeck und Baerbock heran, weder medial noch gesamtgesellschaftlich. Und drittens wird der radikale Teil der klimabewegten Jugend diese staatspolitische Verantwortung nicht goutieren. Mit einer Klimaliste ist bei der nächsten Bundestagswahl zu rechnen, zu Lasten der Grünen.

Die FDP ist die politische Verliererin des Jahres, obwohl die Freiheit als Konzept bei den Protesten der Frauen im Iran und der Zivilgesellschaft selbst in China nicht das schlechteste Standing hatte. Die Freien Demokraten hatten sich deutlich über ihren Prozenten im Koalitionsvertrag durchgesetzt, und dann kam die Realität. Niemand hat mehr Schulden gemacht als der liberale Finanzminister Lindner. Die FDP hat sich in der Coronapolitik weitgehend durchgesetzt, aber das kommt ihr kaum zu Nutze, da die Pandemie gefühlt vorbei ist. Und von den anderen Ministerien konnte keines glänzen, im Gegenteil: Verkehrsminister Wissing steht angesichts des Bahnchaos zunehmend unter Druck.

Das strategische Dilemma der FDP besteht darin, dass ihre Wählerinnen und Wähler einerseits staatspolitische Verantwortung und andererseits Klientelpolitik verlangen, dass aber beides zusammen kaum geht, oder an den beiden Koalitionspartnern scheitert. Im schlechteren Fall beantwortet die FDP dieses Dilemma damit, eine autoaggressive Opposition innerhalb der Regierung zu werden. Sollte das der Fall werden, wäre das ein recht sicherer Weg in die außerparlamentarische Opposition.

Die CDU hat es ohne großartige eigene Leistungen geschafft, wieder Umfragekönigin zu werden, und sie hat starke Wahlsiege in Schleswig-Holstein und NRW errungen. Gerade für Daniel Günther aus dem hohen Norden dürfte das Ministerpräsidentenamt nicht das Ende der politischen Karriereleiter sein, da er der Prototyp des modernen Konservativen ist. Friedrich Merz hat im Bundestag mit den höchsten Unterhaltungsfaktor. Allerdings ist immer noch nicht wirklich klar, wofür die CDU jetzt genau steht. Nicht umsonst hat der Verantwortliche für das neue Parteiprogramm, Carsten Linnemann (Mittelstandsunion) nicht umsonst gesagt, dass noch viel zu tun ist. Der CDU droht großes Ungemach aus dem Osten. Nachdem ein Landrat in Bautzen eins zu eins eine AfD-Weihnachtsansprache hielt, hat sich der sächsische Ministerpräsident Kretschmer davon nicht distanziert, sondern Medienschelte betrieben.

Sowohl in der sächsischen als auch in der thüringischen CDU Landtagsfraktion gibt es nicht wenige, die gern mit der AfD koalieren würden, statt in einer Allparteienkoalition gegen die AfD. In Thüringen ist das Dogma der CDU, dass es keine Zusammenarbeit weder mit LINKEN noch mit der AfD geben kann, parlamentarisch auch nach der nächsten Landtagswahl nicht durchhaltbar, und die Landtagswahlen im Osten sind ein Jahr vor der Bundestagswahl. Da Friedrich Merz in Person für die „Brandmauer gegen Rechts“ stehen will, wird das sein Lackmustest werden.

Und die AfD? Erstmals ist sie nicht wieder in einen Landtag eingezogen (Schleswig-Holstein), und sie profitiert jetzt von der Wut über die steigenden Energiepreise und ist die Partei derjenigen, die keine Sanktionen gegen Russland wollen. Nachdem sie jetzt der parlamentarische Arm der Querdenker waren, darf man gespannt sein, auf welchen Empörungszug sie als Nächstes springen. Eine Allianz mit der BILD gegen eine restriktivere Klimapolitik dürfte der heißeste Favorit sein, wie die jetzigen Polemiken gegen die „Klima-Kleber“ ja schon zeigen.

Die Paradigmatizität des „Klima-Kleber“ Diskurses

Die Themen, die uns neben dem Krieg, der Inflation und der Fußballweltmeisterschaft bewegt haben, waren „Winnetou“, „Layla“ und die „Klima-Kleber“. Identitätspolitik und Vereinfachungen, gekoppelt mit Instant-Erregung und klaren Feindbildern auf beiden Seiten (vgl. Pörksen/Schulz von Thun: 2020; Pörksen: 2019). Mit einer eingängigen Alliteration auf Trump-Niveau wird eine Protestgruppe diskreditiert und ihr Anliegen ins Lächerliche gezogen. Dabei ist das Anliegen der „Letzten Generation“ nicht weniger als die Sicherung unserer künftigen Existenz.

Ganz sicher, über die Protestformen lässt sich streiten. Ob tatsächlich maximale Aufmerksamkeit hilft, die Frage lässt sich stellen. Und Kartoffelbrei auf dem „Getreideschober“ von Monet sichert das Klima nicht (Potsdam, Palais Barberini). Und natürlich darf es nicht sein, dass Rettungswagen aufgrund von Protesten nicht durchkommen, denn wer Menschenleben in der Zukunft retten will, sollte alles dafür tun, dass dies auch jetzt möglich ist.

Allerdings: diese autoritär-aggressive Abwehr eines Verbundes von Rechtspopulisten, Wohlstandschauvinisten und Konservativen gegenüber der „Letzten Generation“ ist eigentlich nur tiefenpsychologisch erklärlich als Schuldabwehr, als Nichtfähigkeit, kritisiert zu werden und als eine Form der Komplexitätsreduktion, wo man sich über die Methode der Proteste streitet, aber nicht über ihre Ursachen und Anliegen. Diese Nichtauseinandersetzung qua Formempörung wird noch ein großes Problem werden. Wahrscheinlich werden wir in 30 Jahren, wenn die Klimakrise deutlich vorangeschritten ist, diesen zivilen Ungehorsam als genauso legitim und selbstverständlich ansehen wie damals Rosa Parks, die zu Zeiten der amerikanischen Rassentrennung (vgl. Kendi: 2000) sich bewusst auf Sitzplätze für Weiße gesetzt hat.

Das Problem sind nicht die „Klima-Kleber“, sondern wir „Konsum-Kleber“, um einmal kurz das sprachliche Niveau zu halten. Solange so konsumiert wird, als hätten wir drei Erden, werden wir immer neue Hitzewellen und Extremwettereignisse erleben. So schön am Silvestertag 20 Grad in Süddeutschland sein mögen, im Sommer sind es dann relativ bald über 45.

War denn alles schlecht in 2022?

Natürlich nicht. Die größte Hoffnung liegt ganz sicher in den Protestbewegungen für Freiheit und Selbstbestimmung. Dass die iranische Zivilgesellschaft, insbesondere die Frauen, trotz massiver Repressionen und abschreckender Todesstrafen über Monate ihre Theo-Gerontokratie in Atem hält und ein Regimesturz möglich erscheint, ist atemberaubend. Dass die chinesische Zivilgesellschaft gegen die zunehmend unmenschlichen Folgen der gescheiterten Zero-Covid-Politik aufbegehrte, trotz des Wissens darum, dass man gut und gerne dann nachts verschleppt werden kann und das später den Lebenslauf im Social Credit System ruinieren wird, ist ein unglaublicher Akt der Courage.

Wir haben als Gesellschaft die gleiche Anzahl an Geflüchteten aufgenommen wie 2015, allerdings ohne solche Polarisierungen und Debatten, und mit insgesamt einer deutlich besser funktionierenden Logistik. Im internationalen Vergleich, insbesondere zu Großbritannien und Italien ist die politische Lage in Deutschland halbwegs stabil, und es wird eine faktenbasierte Politik gemacht (was nicht selbstverständlich ist). Dank der (knappen) erneuten Wahl von Lula zum brasilianischen Präsidenten besteht die Chance, den Regenwald effektiv zu retten. Durch die erzwungene Offenlegung von Donald Trumps Steuerakten hat sich dessen Narrativ des erfolgreichen Geschäftsmannes zerstört, und die EU halt sich endlich einmal durchringen können, Viktor Orbàn den Geldhahn zuzudrehen.

Worauf es nächstes Jahr ankommt: Mehr Zuversicht trotz Vielfachkrisen, mehr Gelassenheit trotz der Gleichzeitigkeit von Hypermoral und Enthemmung (vgl. Pörksen: 2019), und entschiedene Schritte gegen den russischen Neoimperialismus, das Voranschreiten der Klimakrise und das Artensterben. Und vielleicht gelingt auch die Digitalisierung einmal erstaunlich schnell, denn als es in diesem Jahr wirklich drauf ankam, stand das erste LNG-Terminal nach 200 Tagen.

Und wenn der CDU in ihrer Programmarbeit nichts so richtig einfällt: ChatGPT wird es schon richten.

Literatur:

Aronoff, Kate (2020). Corona, Klima, Schulden. Die dreifache Krise des globalen Südens. Blätter für deutsche und internationale Politik (6), S. 51-56.

Belton, Catherine (2021). Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste. HarperCollins.

Butter, Michael (2018). „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Berlin: Edition Suhrkamp.

Decker, Frank (2020). Die Demokratie im Zeichen der Coronakrise. Chance oder Bedrohung? Zeitschrift für Politik (2), S. 124-133.

Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Heller, Ayline/Brähler, Elmar (2022). Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Leipziger Autoritarismusstudie 2022.

Hillje, Johannes (2018). Propaganda 4.0. Wie rechte Populisten Politik machen. Bonn: Dietz.

Kendi, Abraham (2020). Der amerikanische Albtraum. Blätter für deutsche und internationale Politik (7), S. 59-65.

Lender, Peter (2019). Digitalisierung klargemacht. Basiswissen für Arbeitnehmer und Unternehmen. Freiburg: Haufe.

Pörksen, Bernhard/Schulz von Thun, Friedemann (2020). Die Kunst des Miteinander Redens. Über den Dialog in Politik und Gesellschaft. München: Hanser.

Pörksen, Bernhard (2019). Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. München: Hanser.

Snyder, Timothy (2018). Der Weg in die Unfreiheit. Russland Europa Amerika. München: Beck.

Von Lucke, Albrecht (2021). Ampel auf grün: die sozial-ökologisch-liberale Illusion? Blätter für deutsche und internationale Politik (11), S. 5-8.