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Wie du auch die vierte Coronawelle psychisch überstehst – Ein praktischer Ratgeber

Einleitung: Ein psychologisch problematisches Gefühl der Vergeblichkeit

Wie oft dachten wir seit dem letzten Frühjahr: also jetzt müsste es doch wirklich vorbei sein. Als die Zahlen im Frühjahr letzten Jahres drastisch runtergingen, dachten wir uns: okay, das war es dann auch. Und dann kam der Herbst. Es hieß, mit einem Lockdown kriegen wir das Problem in den Griff. Die dritte Welle kam trotzdem. Dann hieß es, mit dem Impfungen können wir es schaffen, die Pandemie zu beenden. Allerdings haben sich zu wenige impfen lassen, um Herdenimmunität herzustellen, und die Zahl der Impfdurchbrüche steigt. Dieses mehrfache Gefühl von Vergeblichkeit ist psychologisch hoch problematisch, denn es führt zum Phänomen der erlernten Hilflosigkeit (Seligman, 2012). Dieses geht allerdings damit einher, dass wir gern resignieren oder zu kontraproduktiven Verhaltensweisen neigen können, und es stimmt ja auch nur zum Teil, denn vieles von dem, wie uns die Pandemie betrifft, haben wir eben durch die Impfung, das Tragen einer Maske in geschlossenen Räumen oder Verkehrsmitteln, aber auch die Reduktion bzw. Auswahl von Kontakten selbst in der Hand. In diesem Text soll es nun allerdings darum gehen, was wir tun können.

Ein weiteres Grundproblem: Das verletzte Konsistenzbedürfnis

Wir alle tragen, in unterschiedlich starkem Ausmaße, in uns den Wunsch nach Konsistenz, das heißt Nachvollziehbarkeit und Sinnhaftigkeit von Sachverhalten. Aber auch von Politikern, von eigenen und fremden Handlungen. Das Problem, und eben auch eine Belastung, ist, dass viele Sachen einfach nicht konsistent sind:

  • Warum gibt es immer noch keine Luftfilter in ausreichender Anzahl?
  • Warum gibt es immer wieder 2G-Veranstaltungen, obgleich zunehmend klar ist, dass diese nicht sicher sind
  • Warum wurden Tests derart verteuert, obwohl konsequentes Testen, gerade angesichts der zunehmenden Impfdurchbrüche und erneut stark steigenden Fallzahlen so wichtig wäre?

All dies ließe sich noch weiter verlängern, es führt allerdings im Kern zu folgendem Grundprinzip: wir verstehen das nicht, und genau das ist belastend. An dieser Stelle ist klar zu unterscheiden, was politisch und gesellschaftlich zu kritisieren ist, und was wir nicht ändern können, und wozu einfach radikale Akzeptanz gehört. Beispiele hierfür sind

  • Dass es die Pandemie überhaupt gibt
  • Dass wir, gerade angesichts stark ansteigender Fallzahlen, sinnvollerweise Kontakte reduzieren sollten
  • Dass wir auch mit zweifacher Impfung eben nicht hundertprozentig sicher sind
  • Dass wir bestimmte Maßnahmen wie Masken brauchen, damit die Situation nicht noch weiter in die Exponentialität und damit außer Kontrolle gerät.

Der alte Satz des Gelassenheitsgebets: „gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“ gilt nach wie vor und ist psychisch sehr gesund.

Was wir alle brauchen: Resilienz

Der Begriff der Resilienz beschrieb ursprünglich in den Materialwissenschaften bestimmte Stoffe, die sehr belastbar sind und auch bei besonderen Einwirkungen halten. Von dort kam dieser Begriff in die Psychologie, um hier Menschen zu beschreiben, die trotz widriger Lebensumstände sich als besonders widerstandsfähig erweisen (Graefe, 2019; Grevenstein et.al., 2018).

Was wir heute wissen, ist einerseits, dass persönliche Resilienz mit sehr wünschenswerten Eigenschaften wie Optimismus und Selbstwirksamkeit (dem Gefühl, aus eigenem Handeln das gewünschte Ergebnis zu erzielen) zusammenhängt (Schlett et.al., 2018). Vor allem aber lässt sich festhalten, dass Resilienz nicht angeboren ist, sondern in erheblichem Maße erlernbar bzw. durch persönliches Verhalten beeinflussbar. Allein schon die letzten drei Wellen der Pandemie waren kollektive Übungen in Resilienz, welche sehr viele Menschen sehr gut gemeistert haben. Einfacher gesagt: wir haben schon einen Winter überstanden, den schaffen wir jetzt auch noch, wobei jetzt ja schon die meisten immerhin geimpft sind, und diese dann auch deutlich weniger Freiheitseinschränkungen haben werden. Ebenso zeigt sich immer wieder in der Resilienzforschung: Es braucht einen Menschen, der an einem glaubt. Der für einen da ist, der ein fester Ansprechpartner ist, damit wir diese psychische Stärke herausbilden können (Berndt, 2014). Genau deshalb ist die bewusste Pflege sozialer Beziehungen so wichtig.

Hört das mit der Pandemie denn nie auf?

Das wissen wir derzeit nicht, auch wenn vieles dafür spricht, dass die Pandemie irgendwann endemisch werden wird. Der Punkt ist jedoch: jetzt ist die vierte Welle erst einmal da, jetzt wird es erst einmal wieder Einschränkungen geben. Wir können durch unser Verhalten dazu beitragen, dass sie nicht ganz so wild werden wird. Aber sowohl Fatalismus als auch allzu langes Nachgrübeln über diese Fragen bringt uns schlicht nicht weiter. Wir sollten uns jetzt darauf fokussieren, gut und psychisch gesund durch den Winter zu kommen und auf die Wissenschaft, die Wirtschaft sowie die Politik hoffen, dass sie gute Lösungen bereithalten werden. Die viel interessantere Frage zum jetzigen Zeitpunkt ist eben die, was wir individuell tun können.

Konkrete Tipps

Es wurde aufgezeigt, dass die vierte Welle ziemlich viele Stressoren bedingt, und sicher auch unschöne Erinnerungen weckt. Dennoch gibt es einiges, was wir ganz konkret tun können. Diese Tipps werden nachfolgend aufgezeigt (Die Reihenfolge impliziert keine Priorisierung)

  1. Kognitive Umstrukturierung: Wenn es jetzt wieder Veränderungen gibt, ob vermehrtes Home-Office, Schließen bestimmter Einrichtungen, so hat das ja auch handfeste Vorteile. Man spart Geld, hat mehr Zeit für sich und die Familie, kann deutlich ruhiger leben, steht nicht morgens und abends im Stau etc. In den anstehenden Veränderungen auch das Positive zu sehen ist psychisch sehr gesund
  1. Freundschaften bewusst pflegen: Jede und jeder von uns hat ein Anschlussmotiv, das heißt den Wunsch, positive soziale Beziehungen zu anderen einzugehen und zu pflegen (Hommelhoff, 2019; Neyer & Asendorpf 2018, S.178f). Genau das machen wir aber im Alltag zu selten, und haben jetzt Zeit dafür. Ob gemeinsame Spaziergänge, Zoomsaufen oder Ausflüge: es gibt diverse Möglichkeiten der Pflege.
  1. Draußen sein: An der frischen Luft sind wir so gut wie nicht gefährdet. Im Gegenteil, unser Stoffwechsel kommt in Fahrt. Viel wichtiger ist jedoch, dass mögliche Einschränkungen ja erst einmal negative Gefühle hervorrufen und uns damit die so genannte Affektbilanz verhageln. Gerade viel Licht ist wichtig, da dies die Serotoninausschüttung erhöht. Gerade jetzt, wo die Tage kürzer werden, empfiehlt es sich, jeweils das Tageslicht zu nutzen. Eine Mittagspause als Spaziergang kann sehr sinnvoll für das Wohlbefinden sein.
  1. Sport machen: Sport ist der absolute Booster für die Psyche. Er macht Freude, wir erleben uns selbst, haben positive Emotionen und sind hinterher gut erschöpft. Möglicherweise wird es Einschränkungen geben, allerdings dürfte bei Schwimmhallen und Fitnesstudios, wenn diese entsprechend leer sind, der körperliche und vor allem psychische Nutzen die Infektionsgefahr deutlich rechtfertigen. Es gehen aber natürlich auch die Klassiker Radfahren und ausgedehnte Spaziergänge.
  1. Frühjahrswunschliste erstellen: Aus den Erfahrungen der letzten Pandemie können wir ableiten, dass es im Frühjahr wieder eine Entspannung geben dürfte, und dann vieles ohne Einschränkungen möglich ist. Wenn wir jetzt wieder soziale Entbehrungen treffen müssen, macht es total Sinn, uns für die Zeit, in der die Tage wieder länger werden und die Fallzahlen deutlich niedriger sind, und bewusst schöne Dinge für danach vorzunehmen. Wen wollten wir schon längst mal wieder besucht haben? Welche Party wollen wir feiern? Welches Urlaubsziel wollen wir ansteuern. Der psychologische Effekt hierbei ist jeder der Affektantizipation, das heißt die Vorwegnahme des positiven Gefühls, welches uns hilft, gegen die aktuell negativen Gefühle anzusteuern und gleichzeitig den Entbehrungen auch einen finalen Sinn zu verleihen.
  1. Uns impfen, sofern noch nicht geschehen, oder den Booster: Dies ist eines der einfachsten und zugleich wichtigsten Dinge, die wir tun können. Wir schützen damit sowohl uns selbst als auch andere mit, und können so einerseits das durch die Fallzahlen steigende Bedrohungsgefühl reduzieren als auch das Wissen haben, dass wir diesen konkreten Beitrag geleistet haben. Denn ohne eine hohe kollektive Impfquote wird diese Pandemie nicht enden. Zudem wird es wahrscheinlich schneller als gedacht die Möglichkeit des Boosterns geben. Auch wenn es natürlich total ungerecht im globalen Maßstab ist, dass wir schon den Booster hatten, während andere noch nicht einmal die Erstimpfung bekamen (Harari, 2020), sollten wir diese Gelegenheit dann auch nutzen, wenn sie uns geboten wird.
  1. Keinen Verschwörungstheorien auf den Leim gehen: Denn diese werden sicher demnächst eine Renaissance erfahren, und sie geben uns einfache Antworten auf komplexe Fragen, und liefern noch dazu einen Sündenbock (Butter,2018). Nicht nur, dass sie irreführend, antiaufklärerisch und in ihrer Konsequenz gefährlich sind (Habeck 2021, S.59), sie sind auch psychologisch hochgradig kontraproduktiv. Denn sie beinhalten ein sehr düsteres Welt- und Menschenbild, welches sich durch einen starken Bestätigungsfilter sich immer wieder bestätigt und unsere Laune verdüstert, siehe die Querdenker-Demos
  1. Mir bewusst überlegen, mit wem ich Zeit verbringen möchte: Die Besonderheit der Situation jetzt besteht ja darin, dass es eben nicht vernünftig ist, sich mit allen möglichen Menschen in geschlossenen Räumen zu treffen. Dies können wir allerdings auch zu einer Tugend umfunktionieren und damit der Situation Sinn und Kohärenz verleihen. Denn wenn es pandemisch geboten ist, sich mit nicht so vielen Menschen zu treffen, so kann ich mich ganz bewusst entscheiden, welche Kontakte mir wichtig sind, und genau diese pflegen.
  1. Die möglichen intrinsischen Motivationen pflegen: Es wird wahrscheinlich so sein, dass viele von uns demnächst wieder mehr Zeit haben, oder mehr Zeit daheim. Diese gilt es dann sinnvoll zu nutzen und gleichzeitig den psychischen Akku aufzuladen. Dies geht am besten, wenn wir die Dinge tun, die uns zuverlässig in den Flow-Zustand bringen (Rheinberg et.al., 2007). Ob es lesen, Netflixen, zocken, Radeln, Sex und Zärtlichkeit, kochen, ein gemütlicher Weinabend oder die Modelleisenbahn ist, ist dabei relativ egal. Entscheidend ist, dass wir die Zeit umwidmen und ihr Sinn verleihen, im Sinne von: Jetzt habe ich Zeit für meine wirklichen Hobbies, meine intrinsische Motivation.
  1. Auf Bewährtes aus den letzten Wellen zurückgreifen: Wir Menschen sind Gewohnheitstiere, und wir benötigen (in unterschiedlich starkem Maße) Rituale und Routinen. Es empfiehlt sich sehr, in der jetzigen Situation innezuhalten, und zu überlegen: was tat mir in den letzten Pandemiewellen gut. Darauf sollte dann auch entsprechend zurückgegriffen werden. Denn auch wenn wir es nicht kontrollieren können, schon wieder in einer Pandemiewelle zu sein, so können wir durch diese bewährten Verhaltensweisen etwas stärken, was in der Psychologie als internale Kontrollüberzeugung bezeichnet wird. Zudem gibt es uns schlicht Sicherheit in einer unsicheren Situation.

Verwendete Literatur

Berndt, Christina (2014). Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft.

Butter, Michael (2018). „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Berlin: Edition Suhrkamp.

Graefe, Stefanie (2019). Erschöpfung, Resilienz und Nachhaltigkeit. Anmerkungen zur neuen Subjektivität der Arbeit. WSI Mitteilungen, 1, S. 23-31.

Grevenstein,Dennis;Agular-Raab, Corinna & Bluemke, Matthias (2018). Mindful and Resilient? Incremental Validity of Sense of Coherence Over Mindfulness and Big Five Personality Factors for Quality of Life Outcomes. Journal of Happiness Studies, 19, S. 1883-1902.

Habeck, Robert (2021). Von hier an anders. Eine politische Skizze. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Harari, Yuval Noah (2020). Mehr Kooperation wagen:Das Heilmittel gegen Corona. Blätter für deutsche und internationale Politik, 5, S.60-63.

Hommelhoff, Sabine (2019). Having Workplace Friends is Not Always Fun. A critical Incident Study. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 3,S. 152-164.

Neyer, Franz & Asendorpf, Jens (2018). Psychologie der Persönlichkeit (6. Auflage). Berlin: Springer Wissenschaft.

Rheinberg, Falko; Manig, Yvette; Kliegl,Reinhold;Engeser,Stefan & Vollmeyer, Regina (2007).Flow bei der Arbeit, doch Glück in der Freizeit. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 3, S. 105-115.

Schlett,Christian; Pauls,Nina & Soucek, Roman (2018). Der Einfluss von Resilienz auf qualitative Formen der Arbeitszufriedenheit. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 4,S. 202-223.

Seligman, Martin (2012). Flourishing.Wie Menschen aufblühen. München: Kösel