Vorbemerkung: Putin war schon vor dem imperialen Angriffskrieg aus demokratischer und progressiver Perspektive nicht verteidigbar
Der russische Präsident Wladimir Putin hat wiederholt erklärt, dass er Russland als Antithese zum Westen und zu liberalen Demokratien erachtet (Snyder: 2018). Er hat das Land einem tiefen autoritären Umbau unterzogen (Shevtsova: 2015), und ist nun dabei, ein zunehmend imperiales und neofaschistisches Regime zu errichten (von Lucke: 2022), ein Regime, welches seinen Charakter bereits bei der Annexion der Krim und der faktischen Annexion der Ostukraine offenbarte. In diesem Regime, welches in nicht unerheblichem Maße eine Kleptokratie alter KGB-Kader darstellt (Belton: 2019), gehörte eine Regellosigkeit, aber auch Ruchlosigkeit seit Beginn von Putins Herrschaft zu dessen Charakteristika, samt der Verachtung von Demokratie, Menschenrechten und der regelbasierten internationalen Ordnung (Belton: 2019; Snyder: 2018)
Eigentlich ist Wladimir Putins Regime durch den völkerrechtswidrigen und menschenverachtenden Angriffskrieg gegen die Ukraine (vgl. Messner: 2022) jetzt vollkommen delegitimiert, allerdings gibt es nach wie vor auch in der deutschen Politik nicht wenige, die ihn verteidigen. Hier kommt es zu einer politologisch interessanten Konvergenz der politischen Ränder, da die Apologet*innen der russischen Politik sich insbesondere in der AfD (Fuchs/Middelhoff 2019: 136; Alternative für Deutschland 2016: 31) und der LINKEN befinden, allerdings bei partiell unterschiedlichen Motiven (was sie jedoch eint, sind teils antiwestlicher Selbsthass uns generalisiertes Institutionenmisstrauen). Allerdings hat auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in jüngster Zeit in einem Interview in der ZEIT wesentliche Elemente des Putinschen Narrativs übernommen (Russland kann nicht militärisch besiegt werden, die jetzt besetzten Gebiete sollten Russland überlassen werden, die Sanktionen bringen nichts und schaden dem Westen nur) und sich damit auch derart exponiert als Putin-Versteher geäußert, dass Parteichef Friedrich Merz sich davon im ARD Sommerinterview distanzieren musste. Gerhard Schröder ist ein negatives weiteres Beispiel, allerdings spielen hier persönliche Aspekte und wirtschaftliche Interessen eine große Erklärungsrolle (sowie ein fehlendes Ethos der Verantwortung als Altkanzler).
Aus demokratischer Perspektive (vgl. Müller: 2013), insbesondere aber aus progressiver Perspektive ist jedwede Verteidigung und Relativierung des Putinismus programmatisch und ideologisch absolut inkonsistent, denn schon vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine
- War Russland im Wesentlichen eine Scheindemokratie, in der es keine wirklich freien und fairen Wahlen gab (Shevtsova: 2015)
- Wurde die Zivilgesellschaft massiv unterdrückt, wie man an der Niederschlagung von Protesten, dem Verbot von Organisationen wie „Memorial“ (sorgte für die Erinnerungskultur der sowjetischen Geschichte samt ihrer Verbrechen) sowie der Registrierung internationaler Organisationen als „ausländische Agenten“ (Snyder: 2018)
- Hat das Putin-Regime aus geopolitischem Eigeninteresse den Menschenschlächter Baschir Al-Assad an der Macht gehalten und schon im Syrien-Krieg schreckliche Kriegsverbrechen verübt (vgl. Zumach: 2016)
- Wurde schon in früheren Kriegen wie den Tschetschenienkriegen geplanter und systematischer Terror auf Zivilist*innen als Kriegsstrategie praktiziert
- Wurden Minderheitenrechte zurückgenommen, insbesondere der LGBTIQ-Bewegung, und gegen ein angebliches „Gayropa“ gehetzt
- Wurden demokratiefeindliche und rechtspopulistische Parteien wie die AfD, der Front National (heute: Rassemblement National) sowie die Lega Nord (heute: Lega) direkt oder indirekt finanziell unterstützt. Genau deshalb ist es auch so logisch und programmatisch inkonsistent, wenn LINKE Putin verteidigen, obwohl dieser ihre Gegner*innen finanziert (vgl. Laruelle: 2020)
- Wurden politische Morde im Inland und im Ausland verübt (Bsp. Boris Nemzow und Anna Politkowskaja in Russland, Tiergartenmord in Berlin), und damit die Geringschätzung des Rechtsstaates und die Persistenz geheimdienstlicher Praktiken als legitime Mittel illustriert. Diese Morde begannen schon seit der Machtübernahme Putins (Belton: 2019), und gerade seit dem Krieg sind sehr viele Menschen eines unnatürlichen Todes gestorben
- Hat das russische Militär massiv aufgerüstet und ist ja auch zum Einsatz gekommen; Russland selbst agiert wie eine klassische imperialistische Macht (Münkler: 2005), welche sich, gestützt auf militärische Macht, fremdes Territorium einverleibt
- Wurden verschiedenste Despoten und Autokraten durch Russland gestützt, teils auch durch Waffengewalt der „Gruppe Wagner“
- Hat das Land mittels Cyberangriffen, Desinformationskampagnen und mittels staatlicher Troll-Fabriken (Schaeffer: 2018) liberale Demokratien wiederholt angegriffen
Aus all diesen Gründen war es schon vorher unerklärlich, warum Putin und sein Regime verteidigt, relativiert und entschuldigt wurden. Nun kam der russische Angriffskrieg, und nach einem kurzen Innehalten ist festzustellen, dass selbst dieser wenig an der Verteidigung der russischen Politik geändert hat, ob bei Sahra Wagenknecht, Alice Weidel, Gerhard Schröder oder eben Michael Kretschmer.
Exkurs: Warum es so schwierig ist, die eigene Haltung trotz konträrer Evidenzen zu ändern
Diese Frage lässt sich wesentlich psychologisch beantworten.
Denn wir alle haben ein so genanntes Konsistenzbedürfnis, und wir wollen, auch für unseren Selbstwert, schlicht Recht behalten (Haidt: 2012). Dies kulminiert dann in Sätzen wie „Mea culpa ist nicht mein Ding“ des Altkanzlers Gerhard Schröder. Hinzu kommt, dass wir häufig auch einem Bestätigungsfilter unterliegen, insbesondere um unsere starken Wertungen zu schützen. Das heißt, gegenteilige Evidenzen werden ignoriert, relativiert, oder eben der russischen Propaganda geglaubt, da diese ins eigene Weltbild passt, während andere Sachverhalte schlicht abgeschirmt werden.
Dies führt dann in der Konsequenz zu Dogmatismus, wenig Lernfähigkeit und einem trotzigen Beharren auf bestimmten Positionen, obgleich sich die Realität stark verändert hat. Politisch ergibt sich daraus notwendig das Grundproblem, dass es dann keinerlei realitätsadäquate Policy mehr gibt.
Im Folgenden sollen nun systematisch Thesen der Putin-Versteher*innen analysiert und argumentativ widerlegt werden.
These: Der Westen hat seine Versprechen 1990 gebrochen und Putin eingekreist, das ist nur seine Reaktion
Erwiderung: Richtig ist, dass in den Verhandlungen um die deutsche Einheit es damals nicht die Absicht gab, die NATO nach Osteuropa auszuweiten. Dies stand auch überhaupt nicht auf der Tagesordnung, denn die Sowjetunion existierte ja noch, ebenso der Warschauer Pakt. Es gab eine Absichtserklärung damals, aber kein völkerrechtlich verbindendes Dokument. Zugleich wird mit dieser Position den Ländern Osteuropas faktisch das Recht abgesprochen, selbst über ihre Bündnisse zu entscheiden.
Jedoch hat sich die Situation gerade für die osteuropäischen Länder auch dadurch geändert, dass Russland im postsowjetischen Raum diverse Kriege geführt hat, wie die blutigen Tschetschenienkriege, den Georgienkrieg, aber eben auch die Annexion der Krim und des Donbass, und alle osteuropäischen Länder sind mit einer Übermacht der russischen Armee, teils direkt an ihren Grenzen, konfrontiert. Genau daraus erwuchs deren legitimes und verständliches Sicherheitsbedürfnis, und das sollte man ihnen sicher nicht absprechen.
Hinzu kommt entscheidend: im Budapester Memorandum von 1994 hat sich Russland sogar völkerrechtliche verpflichtet, die territioriale Integrität der Ukraine für deren Verzicht auf Atomwaffen ewig zu achten. Dieses Versprechen wurde durch die Invasion aufs Massivste gebrochen. Ebenso verstößt der Krieg gegen die Charta von Paris und die KSZE-Schlussakte von Helsinki, welche allesamt die Achtung der Territorialität und Unabhängigkeit von Staaten beinhalten. Es steht also eine (umstrittene) Absichtserklärung in einer bestimmten historischen Situation gegen mehrere völkerrechtlich bindende Dokumente, welche Russland gebrochen hat, weshalb der Verrat von Versprechen viel stärker dem russischen Regime anzulasten ist.
These: Der Westen hat auch völkerrechtswidrige Kriege geführt, wie den Irakkrieg 2003 oder den Kosovokrieg 1999
Erwiderung: Zunächst ist es richtig und zu verurteilen, dass diese Kriege ohne völkerrechtliche Legitimation geführt wurden, sei es als Krieg der NATO (Kosovokrieg 1999; vgl. Becker/Engelberg: 2020) oder mittels einer so genannten Koalition der Willigen (Irakkrieg 2003; Blaschke: 2015). Auch, dass die USA über die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak gelogen haben, ist absolut zu verurteilen.
Daraus erwächst jedoch keinerlei Rechtfertigung für die vielen russischen Kriege. Jeder völkerrechtswidrige Krieg ist zu verurteilen und nicht durch andere Kriege zu relativieren. Hinzu kommt, dass es zwei gravierende Unterschiede zwischen den Kriegen des Westens und den Kriegen Russlands gibt. Erstens zielten die Kriege des Westens nicht auf eine territoriale Einverleibung, Deportation der Einwohnerinnen und Einwohner sowie der kulturellen Auslöschung einer Nation, wie dies in der Ukraine geschieht (von Lucke: 2022). Zweitens hat der Westen nicht bewusst und willentlich die Zivilbevölkerung attackiert, zum Beispiel durch gezielte Angriffe auf Krankenhäuser, was in der russischen Kriegsführung leider eine traurige, sich wiederholende Realität ist. Solche bewussten und systematischen Massaker wie in Butscha und Mariupol sind leider auch in den Tschetschenienkriegen, aber auch im Syrienkrieg seitens der russischen Armee Teil ihrer brutalen Kriegspraxis, was man so für westliche Interventionen nicht festhalten kann. Deshalb kann und sollte man die vergangenen Kriege des Westens nicht mit den heutigen russischen Kriegen vergleichen. Drittens: wenn ein Völkerrechtsbruch einen anderen begründet, dann wird schnellstmöglich das Völkerrecht obsolet, und das können wir nicht wollen, da es die ohnehin bestehenden Tendenzen zu einer Anarchie in den internationalen Beziehungen (Krell: 2019) nur verstärkt.
These: Putin bekämpft den Faschismus in der Ukraine
Erwiderung: Dies ist klar zurückzuweisen. Natürlich gibt es in der Ukraine auch eine rechte Partei, aber das ist in allen europäischen Nationen der Fall. Ebenso gibt es sicher im Asow-Regiment, welches unter höchsten Opfern Mariupol verteidigte, nationalistische Tendenzen. Daraus jedoch auf das gesamte Land zu schließen ist schlicht ein induktiver Fehlschluss. Vor allem kommt hinzu, dass das russische Regime sich durch den Krieg selbst zunehmend zu einem faschistischen Regime entwickelt hat, denn es hat inzwischen ganz viele Elemente eines klassischen Faschismus (vgl. Adorno/Horkheimer 1995: 93) stark ausgeprägt. Schauen wir uns Elemente an, die gemäß der Bundeszentrale für Politische Bildung Faschismus ausmachen, so finden wir vieles davon im heutigen Russland (vgl. Belton: 2019) wieder.
- Führerprinzip
- Extreme Gewalt
- Fremdenfeindlichkeit
- Unterordnung des Einzelnen unter die Gesellschaft (siehe 15 Jahre Haft für Falschinformationen über die „militärische Spezialoperation“)
- Klare Unterscheidung von Freund und Feind
Die besondere Paradoxie ist also die, dass Putin vorgibt, den Faschismus zu bekämpfen, obwohl er selbst zunehmend wie einer agiert. Hinzu kommt, dass es besondere Verwüstungen dort gab, wo viele ethnische Russen wohnen. Der Zweck der Befreiung ist angesichts der Vernichtung ganzer Städte wie Mariupol offensichtlich nur vorgeschoben.
These: Die Bilder von den Massakern der russischen Armee wie in Butscha sind doch Fälschungen (des Westens)
Vorbemerkung: Diese Art der Argumentation trägt stark verschwörungstheoretische Züge (vgl. Butter: 2018)!
Das ist definitiv falsch, und die Frage ist erstens, woher du eine derartige Falschbehauptung hat, und zweitens, warum du so etwas behauptest?
Verschiedene Satellitenaufnahmen zeigen ganz klar, dass die Leichen bereits dort lagen, als die Städte bereits von Russland okkupiert waren. Ebenso ist eine Untersuchung der Vereinten Nationen hier auch zu dem Schluss gekommen, dass diese gezielte Ermordung von Zivilistinnen und Zivilisten grausame Akte der russischen Armee waren.
These: Beim Jemen-Krieg, den unser Verbündeter Saudi-Arabien führt, machen wir auch nicht einen solchen Aufschrei wie beim Ukrainekrieg
Vorbemerkung hierzu: An diesem Einwand ist definitiv etwas dran, daher sollte ihm empathischer als den anderen Beispielen begegnet werden
Erwiderung: Es stimmt definitiv, dass auch der grausam geführte Jemen-Krieg klar zu verurteilen ist. Und in der Tat hat er nicht einmal im Ansatz die mediale Aufmerksamkeit erhalten, die der Ukrainekrieg hat. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass er weiter weg geschieht und nicht auf dem europäischen Kontinent stattfindet. Ebenso ist deine Kritik nachvollziehbar, dass der Aufschrei gegenüber Saudi-Arabien sehr gering ausfällt, gerade im Vergleich zu den Sanktionen, die wir Russland auferlegt haben. Dennoch ist es so, dass Saudi-Arabien nicht versucht, sich dieses Territorium einzuverleiben als Teil seines Staatsgebietes, und dass es dort ein von allen Seiten sehr grausam geführter Krieg ist, während es kaum Meldungen über Kriegsverbrechen der ukrainischen Armee gibt, weshalb diese Kriege dennoch schwer vergleichbar sind. Und ein Aufwiegen des einen Krieges mit einem anderen Krieg ist immer schwierig. Stattdessen sollten alle Kriege verurteilt werden.
These: Wir haben auf die Sicherheitsinteressen Russlands nicht genügend Rücksicht genommen, und dafür bekommen wir jetzt eben die harte Quittung
Erwiderung: Aus einer vermeintlichen Nicht-Rücksichtnahme auf die Sicherheitsinteressen eines Landes lässt sich definitiv keine Legitimation für einen Krieg ableiten. Es war die souveräne Entscheidung der Länder Osteuropas, Mitglied der NATO zu werden, und die entsprechenden Militärstationierungen der NATO an der Ostgrenze waren gering, und bis vor kurzen haben viele Länder auch nicht die Zielmarke von 2% der Militärausgaben erfüllt. Ebenso wurden der Ukraine und Georgien zwar der NATO-Beitritt in Aussicht gestellt, dieser aber nie vollzogen. Daher ist es auch schlicht nicht richtig, dass auf russische Sicherheitsinteressen keinerlei Rücksicht genommen wurde.
Hinzu kommt der gravierende Widerspruch, dass Russland mittels einer Invasion auf Kosten der Existenz eines anderen, souveränen Landes seine Sicherheitsinteressen durchsetzen will. Putin ignoriert Sicherheitsinteressen der russischen Anrainerstaaten nicht nur, sondern er widerspricht ihnen durch sein Handeln fundamental. Zudem würde man sich dann automatisch auf die Logik einlassen, dass die Interessen größerer oder mächtigerer Staaten stärker zu gewichten sein als die Interessen kleinerer Staaten. Argumentativ frappierend ist, dass oft Menschen, die sich selbst als anti-imperialistisch betrachten, genau das allerdings in der Konsequenz vertreten.
These: Aufgrund der deutschen Geschichte, insbesondere des Handelns der Wehrmacht und der SS in der Sowjetunion, verbieten sich heute deutsche Waffenlieferungen, welche Russen töten
Vorbemerkung: Dies ist ein moralisch-historisches Argument, das einer gewissen Legitimation nicht entbehrt. Daher sollte auch hier mit entsprechender Empathie geantwortet werden
Erwiderung: In der Tat ist dies ein moralisches Dilemma, da gebe ich dir Recht. Gerade wir als Deutsche sollten dankbar sein für die unglaublichen Opfer, welche die Sowjetunion erbracht hat, um uns vom Faschismus zu befreien.
Allerdings war auch die Ukraine Teil der Sowjetunion, und viele der deutschen Kriegsverbrechen fanden auf dem heutigen Territorium der Ukraine statt, weshalb sich historisch auch eine starke Schutzverantwortung gegenüber der Ukraine ableiten lässt. Und gerade dadurch, dass der Krieg seitens von Russland so grausam geführt wird, sollten wir der Ukraine helfen, so wie es damals auch die Alliierten gegenüber Russland getan haben.
These: Die Ukrainer sollen einfach kapitulieren, dann bleibt uns ganz viel Leid erspart
Vorbemerkung: auch das ist eine legitime, aber dennoch schwierige Position, wenn man sie über den Moment hinausdenkt
Erwiderung: Die Kapitulation würde bedeuten, dass die russischen Streitkräfte die Kontrolle übernehmen. Dies allerdings führt dazu, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer vollkommen ungeschützt sind, und es hat sich innerhalb der russischen Besatzung sowohl in der kurzen Zeit im Norden in Orten wie Butscha und Tschernihiv, als auch im Süden gezeigt, dass massive Zivilverbrechen an der ukrainischen Bevölkerung geübt würden. Diese werden vom russischen Regime stets auch als Teil des notwendigen Befreiungskampfes angesehen. Das heißt, selbst wenn es kurzfristig sicher für weniger tote Soldaten sorgen würde, ist danach von einem enormen Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung auszugehen.
Viel wichtiger ist jedoch das Anreizproblem, denn faktisch hatten wir diese Politik schon im Rahmen der Krim-Annexion und der Ostukraine, wo es keine umfassenden Sanktionen gab und die Ukraine diese Besetzungen hingenommen hat. Dies hat mitnichten dazu geführt, dass Putin dann klein bei gab, sondern es war die Ermutigung zu diesem noch größeren Krieg, mit dem wir jetzt konfrontiert sind.
Genau dieses Problem würde sich, sollte die Ukraine tatsächlich kapitulieren, noch in viel größerem Maßstab stellen. Denn das russische Regime hat klar erklärt, dass es frühere Sowjetrepubliken als seinen legitimen Einfluss- und Interessenbereich betrachtet, und es zirkulieren in Russland Karten mit den Grenzen von 1945, welche weitere Expansionspläne und -phantasien sehr deutlich machen. Eine Kapitulation der Ukraine würde also hochwahrscheinlich nur zu weiteren Eroberungsfeldzügen ermutigen, und diese sind genau das Gegenteil von Ruhe.
These: Russland kann sowieso nicht militärisch besiegt werden (deshalb muss man sich besser mit ihm einigen
Vorbemerkung: Diese These ist ganz klassisch das, was als eine dogmatische Setzung bezeichnet werden kann (Zorn: 2019). Jedoch gilt hier wie bei jeder dogmatischen Setzung: Nur weil etwas behauptet wird, ist es deshalb noch lange nicht wahr.
Erwiderung: Diese These ist auf den ersten Blick durchaus plausibel, da Russland in seiner langen Geschichte selten große Kriege verlor und militärisch in der quantitativen Übermacht ist. Allerdings hat erstens auch Russland schon Kriege verloren, wie in der Schlacht von Narva im Großen Nordischen Krieg 1700, zunächst gegen Napoleon bei Austerlitz 1805, und der Friedensvertrag von Brest-Litowsk im ersten Weltkrieg war ein Diktatfrieden Deutschlands, welcher einem drohenden militärischen Zusammenbruch, auch aufgrund der revolutionären Situation, zuvorkam.
Zweitens allerdings gibt es das ganz aktuelle Beispiel, dass viele Beobachter und Prognostiker sich einig waren, dass Russland die Ukraine binnen kürzester Zeit überrennen würde, aber selbst der kilometerlange Konvoi vor Kiew wurde erfolgreich aufgehalten. Die gezielten Nadelstiche und Partisanentaktiken könnten das quantitative Übergewicht kompensieren. Dies wurde allerdings damals nicht für möglich erachtet.
Drittens hat die russische Armee massiv mit moralischen Problemen zu kämpfen, was in Kriegssituationen immer heikel ist (Clausewitz: 1832). Denn einerseits ist das Ziel des Einsatzes auch den russischen Soldaten oft nicht klar, während die ukrainische Armee schlicht die Existenz des Landes verteidigt. Ausbleibender Sold und Boni, teils aufgrund der schwerfälligen russischen Militärbürokratie, teils wegen der Korruption innerhalb der Armee unterminiert die Moral. Den moralischen Unterschied kann man auch daran feststellen, dass es zahlreiche Berichte von Desertionen russischer Soldaten gibt (gerade jetzt, im Kontext der ukrainischen Gegenoffensive), aber so gut wie keine Berichte seitens ukrainischer Soldaten. Hinzu kommt innerhalb der moralischen Frage, dass die Zivilbevölkerung die eigene Armee stark unterstützt, und dies teils, indem sie Stellungen der russischen Armee verrät.
Viertens ist die ukrainische Armee über den gesamten Kriegsverlauf taktisch besser auf die Kampfhandlungen eingestellt als die russische Armee. Durch die gezielte Zerstörung von Munitionsdepots könnte das massive Übergewicht an Artillerie jetzt reduziert werden. Die taktische Zerstörung von Brücken und anderen Nachschubwegen erschwert die ohnehin problemanfällige Logistik der russischen Armee. Ebenso konnte sie jetzt ein besonderes Momentum in der Ostukraine nutzen, da viele russische Truppen zur Abwehr der Gegenoffensive in den Süden entsandt wurden. Die Täuschung durch militärisches Gerät aus Holz, die Identifikation russischer Standorte durch Fake-Profile angeblicher ukrainischer Frauen, vor denen russische Soldaten digital posen und damit ihren Standort verraten: die ukrainische Armee hat viele dieser taktischen Raffinessen eingesetzt. Denn sie hat sich auf diesen Krieg vorbereitet und aus den Niederlagen von 2014 offenkundig gelernt.
Fünftens beginnen die westlichen Sanktionen zunehmend auch militärisch wirksam zu werden. Gerade für militärische Präzisionsgeräte braucht Russland westliche Technologie, welche allerdings mit Sanktionen belegt sind (Krätke: 2022). Demgegenüber wird die Ukraine immer weiter mit neuesten westlichen Waffen versorgt, weshalb auch technologisch der Krieg sich zunehmend für die Ukraine in eine günstige Richtung entwickelt.
Sechstens zeigt sich gerade, dass wenn russische Verteidigungslinien zusammenbrechen, dies gerade auch aufgrund der geringen Moral der russischen Truppen zu starken Rückzügen führt, und dann Geländegewinne möglich sind, die man für vorher kaum realisierbar hielt. Dies gilt genauso für den Geländegewinn der Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine.
Russland ist also militärisch schlagbar, es wurde bereits geschlagen in diesem Krieg, die Moral und zunehmend auch die Technologie ist auf der Seite der Ukraine, sie ist taktisch besser aufgestellt und die Sanktionen beginnen sich auch militärisch auszuwirken. Diese Faktoren sprechen allesamt dafür, dass Russland militärisch besiegbar ist. Allerdings gibt es hier natürlich noch einen Unsicherheitsfaktor: die russische Generalmobilmachung. Davor allerdings schreckt das russische Regime noch zurück, weil dann das Narrativ der erfolgreichen militärischen Spezialoperation in Gefahr wäre, und die Unzufriedenheit im Land massiv stiege. Davor hat der Kreml (noch) Angst.
Die Position jedenfalls, dass Russland nicht militärisch verlieren könne, ist ahistorisch, als solche nicht begründet und eine Übernahme russischer Propaganda.
Fazit:
Wir sind mitten in einer Systemauseinandersetzung zwischen Demokratien und Autokratien (Levitsky/Ziblatt: 2018). Innerhalb dieser Systemauseinandersetzung haben Demokratien den strategischen Nachteil, dass sie über offene Kommunikationskanäle verfügen, über die auch Propaganda und Desinformation des Systemkonkurrenten relativ ungehindert in den politischen Diskurs einsickern kann (Schaeffer: 2018). Gleichzeitig spielen manche Politikerinnen und Politiker bewusst das Spiel des russischen Präsidenten, manche unbewusst.
Es sollte jedoch, auch als Ausdruck robuster demokratischer Zivilität (Ash: 2016) immer wieder aufgezeigt werden, dass aus einer demokratischen, einer humanistischen und emanzipatorischen Perspektive eine Verteidigung des Putinismus unmöglich ist, und dass alle vorgebrachten Thesen der Putin-Versteher*innen gut argumentativ widerlegbar sind..
Literatur
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Belton, Catherine (2019). Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Visier nahm.
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Clausewitz, Carl von (1832). Vom Kriege.
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Krätke, Michael R. (2022). Putins großer Bluff: Wie Russland den Wirtschaftskrieg verliert. Blätter für deutsche und internationale Politik, 9, S. 93-98.
Krell, Gert (2019). Weltordnung
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Levitsky, Steven/Ziblatt, Daniel (2018). How Democracies Die. New York: Crown.
Messner, Dirk (2022). Taumelnde Weltordnung. Die Zeitenwende und die globale Klimapolitik. Blätter für deutsche und internationale Politik, 7, S. 59-68.
Müller, Jan-Werner (2013). Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Münkler, Herfried (2005). Imperien. Die Logik der Weltherrschaft: Vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt
Schaeffer, Ute (2018). Fake statt Fakt. Wie Populisten, Bots und Trolle unsere Demokratie bedrohen. München: dtv Verlagsgesellschaft.
Shevtsova, Lilia (2015). Forward to the past in russia. Journal of Democracy, 2, S. 22-36.
Snyder, Timothy (2018). Der Weg in die Unfreiheit. Russland Europa Amerika. München: Beck.
Von Lucke, Albrecht (2022). Putins Krieg: Das Ende unserer Illusionen. Blätter für deutsche und internationale Politik, 4, S. 58-66.
Zorn, Daniel-Pascal (2019). Logik für Demokraten. Eine Anleitung. Stuttgart: Klett-Cotta.
Zumach, Andreas (2016). Die syrische Tragödie und die Ohnmacht der UNO. Blätter für deutsche und internationale Politik, 11, S. 5-8.