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Die gravierende und multiple Krise von Bündnis 90/Die Grünen und ihre Implikationen

Einleitung: Die Ergebnisse des Koalitionsausschusses als jüngste der Zumutungen

Die Partei Bündnis 90/Die Grünen ist in einer krisenhaften Situation, welche in ihrer Intensität wohl nur mit der Situation der Zustimmung zum Kosovokrieg (Becker/Engelberg 2020, S. 107) vergleichbar ist. Denn nachdem Sie insbesondere unter der Führung von Annalena Baerbock und Robert Habeck sich sowohl in Mitgliedern als auch Wählerstimmen etwa verdoppelt hat (Olschanski: 2020) und erstmals seit 2005 wieder über die Geschicke der Bundesregierung mitbestimmen kann, musste sie jetzt mehrere Rückschläge erleiden. Die Ergebnisse des Koalitionsausschusses, welche tatsächlich teils die Frage der Sinnhaftigkeit der grünen Regierungsbeteiligung aufwerfen, war dabei die jüngste der Zumutungen.

Was Bündnis 90/Die Grünen in den letzten Jahren stark gemacht hat, war erstens das gestiegene Bewusstsein für die Klimakrise und ihre Folgen, insbesondere auch durch die heißen Sommer 2019 und 2020. Die Klimakrise ist erlebbar geworden, und damit die damit identifizierte Partei attraktiver. Zweitens hatten die Grünen einen klaren Markenkern (Olschanski: 2020) und eine hohe Kompetenzzuschreibung bei diesem Thema, noch viel stärker als die SPD für soziale Gerechtigkeit oder die Union für innere Sicherheit. Es wurde sich immer an den Grünen gerieben, aber dass sie für konsequenten Klimaschutz standen, war unbestritten, und wurde selbst von den politischen Gegnern anerkannt. Drittens gab es ein klares Bündnis zwischen Teilen der Zivilgesellschaft, insbesondere Fridays for Future (Lucke: 2019), und der Partei Bündnis90/Die Grünen. Zwar war dieses Bündnis nicht absolut offiziell, da die Demonstrationen natürlich überparteilich sind. Dennoch war klar, dass das Framing einer Wahl wie zum Beispiel der Europawahl 2019 als „Klimawahl“ an der Wahlurne auf das Konto der Grünen einzahlen würde. Viertens gab es die klare Strategie, Bündnispartei sein zu wollen, das heißt mit unterschiedlichen Parteien, aber auch Milieus kooperieren zu wollen und dadurch auch über die eigene Wählerklientel hinaus an Akzeptanz zu gewinnen. Fünftens gab es ein extrem professionelles Konfliktmanagement, bei dem (bestehende) Konflikte nicht nach außen getragen wurden, Spannungen auch nicht als solche erkennbar waren und selbst eine gewichtige Frage wie jene der Kanzlerinkandidatur geräuschlos geklärt und akzeptiert wurde (anders als bei der Union). Sechstens gab es den klaren politischen Begründungsstrang, dass naturwissenschaftliche Notwendigkeiten insbesondere der Klimakrise endlich in handfeste Politik überführt werden muss (Greffrath: 2020; Brand: 2019), was ein ganz anderer, harter Legitimationsstrang der eigenen Politik war, der zudem auch für sehr rationale Wählerinnen und Wähler ansprechbar war. Siebtens war eine Stimme für Bündnis90/Die Grünen gefühlt immer auch ein gewisser moralischer Ablasshandel, denn auch wenn der eigene ökologische Fußabdruck schwierig war, „so wählt man ja wenigstens die Grünen“.

Die jetzige, multiple Krise der Grünen ist deshalb so gravierend, weil von den sieben kontingenten Erfolgsfaktoren nur noch einer aktuell besteht: Das Eindringen der Klimakrise in den eigenen Lebensraum. Allerdings ist der Sommer noch ein Stück weg.

Das Kernproblem: Die Mehrheit der Gesellschaft ist in der Klimapolitik ein NIMB

In der amerikanischen Soziologie wird ein Phänomen beschrieben, welches Ausdruck einer starken Individualisierung und Negation von gesellschaftlicher Verantwortung bei gleichzeitigem Umgang mit der widersprüchlicher werdenden Welt ist (Reckwitz 2018): es trägt die Abkürzung NIMB und steht für „Not in my backyard“. Der Chefredakteur der „Blätter für deutsche und internationale Beziehungen“ hat das Phänomen schon 2021 wie folgt zusammengefasst: „

Das ist das grüne Dilemma: In der Theorie bejahen viele eine konsequente Klimapolitik. Kommt es dagegen zum Schwur und müssen die Leute erkennen, dass ihnen ökologische Politik wirklich etwas abverlangt – nämlich 16 Cent mehr pro Liter Benzin – ist die Unterstützung ganz schnell am Ende. Dabei hatten sich auch Union und SPD auf eine Erhöhung um 15,5 Cent geeinigt, aber, anders als die ehrlichen Grünen, den konkreten Beitrag einfach nicht an die große Glocke gehängt.“

Lucke 2021: 6-7

Damit ist gemeint, dass Menschen abstrakt für Veränderungen sind, aber konkret nur genau bis zu dem Punkt, wo sie selbst, real oder gefühlt, negativ betroffen sind . Beispiele dafür gibt es Zuhauf: Menschen, die für Bildungsgerechtigkeit sind, aber definitiv für ihr Kind den Gymnasiumsplatz haben wollen. Menschen, die für Zuwanderung und Weltoffenheit sind, aber definitiv keine Flüchtlingsunterkunft vor der Tür haben wollen. Menschen, die grundlegend für erneuerbare Energien sind, aber denen es wichtig ist, dass die Abstandsregelungen insbesondere zu ihrem Haus groß sind.

Genau diese Inkonsistenz erfährt jetzt politische Wirksamkeit. Denn nachdem schon im Koalitionsvertrag überproportional viele der Vorhaben des potenziellen Vetospielers FDP vertreten waren und die Grünen aufgrund der neuen Herausforderung des Russland-Ukraine-Krieges viele für sie schmerzhafte Kompromiss machten, wie die LNG-Terminals, den Streckbetrieb von Atomkraftwerken und weitere, wollten sie jetzt ernsthafte und wirksame Klimaschutzpolitik machen. Genau das aber schlägt sich in Wahlniederlagen, einem vergleichsweisen Umfragetief und viel schlechter Presse, und das nicht nur aus dem Hause Springer, nieder.

Die Streichung des Dienstwagenprivilegs, das Ende des Verbrennermotors, das Nachrüsten von Heizungen daheim, die Umstellung der Pendlerpauschale auf Klimaneutralität und viele weitere geplante Maßnahmen berühren konkrete Interessen von bestimmten Teilen der Gesellschaft, und sie bedeuten für bestimmte Teile der Gesellschaft eine sofortige subjektive Verschlechterung der Situation. Genau deshalb regt sich signifikanter Widerstand, wenn Klimaschutz konkret wird. Gerade die Maßnahmen wie Wärmepumpen, die dann noch direkt an den Geldbeutel der Menschen gehen, erzeugen sehr viele Widerstände. Denn genau dann, wenn Klimaschutz konkret wird, sollte er lieber abstrakt bleiben. Die SPD scheint dieses Grundprinzip deutlich besser verstanden zu haben, da sie sich sehr ökologisch gibt, aber wenn es konkret wird doch den Bremser gibt, jetzt sogar zusammen mit der FDP.

Die aktuellen inneren Baustellen der Bündnisgrünen

Zwischen Robert Habeck und Annalena Baerbock passte gefühlt kein Blatt Papier. Dies hat sich verändert, und beide laufen sich auch schon warm für das Kanzleramt, was zusätzliche Spannungen erzeugt. Diese Spannungen scheinen auch während des letzten Koalitionausschusses von den anderen Parteien bewusst genutzt worden zu sein.

Ricarda Lang und Omid Nouripour sind definitiv bemüht, aber sitzen nicht die Ausstrahlung und Reichweite ihrer beiden Vorgänger*innen, die weit über grüne Milieus hinaus wirkten und eine erkennbare Arbeitsteilung hatte: Robert die großen Linien, Annalena die konkrete Politik. Sie spielen einfach nicht in deren politischer Liga, und dies ist insbesondere bei Medienauftritten leider sichtbar. Ebenso ist derzeit keine wirkliche Strategie erkennbar. Eher ein: Wir sind verantwortungsvoll, und deswegen sind wir auch bereit schmerzhafte Kompromisse zu machen. Das ist jedoch, wenn überhaupt, nur eine reaktive Strategie.

Schon die Abbaggerung von Lützerath war eine faktische Niederlage für die Grünen. Denn ob diese tatsächlich energiepolitisch notwendig war, war eben sehr umstritten, und dass es ein grüner Polizeipräsident war, der den Einsatz zu verantworten hatte, deeskalierte die Lage nicht. Das Kernproblem war hier erstens die Entfremdung (Jaeggi: 2013) und der Bruch mit der Klimabewegung,

zweitens aber das Gefühl, hier wissentlich politisch hinter naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu handeln, und im Zweifel in der Regierungsverantwortung nicht anders zu handeln als andere Akteure. Also eben nicht den, evidenzbasierten, klimapolitischen Unterschied zu machen.

Genau dieses Gefühl hat sich jetzt noch einmal durch die Ergebnisse des Koalitionsausschusses verstärkt. Denn mit der Abschaffung der verbindlichen Ziele für jeden Bereich fällt man hinter die Große Koalition zurück, und ein Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) wird das natürlich als einen Freifahrtschein für eine Nichtreduktion von Emissionen verstehen. Gerade der beschlossene Autobahnneubau ist für viele Grüne eine Zumutung, über die auch Milliarden für die Bahn und erst recht nicht Solarzellen an der Autobahn nicht hinwegtäuschen können. Es stellt sich tatsächlich die Frage, ob es nicht politisch-strategisch klüger gewesen wäre, den Koalitionsausschuss platzen zu lassen und sich an dieser Stelle, wo man auch deutlich hinter den Koalitionsvertrag zurückfällt, zu verweigern. Denn die Binnenkrisen der Ampel waren ohnehin offensichtlich, und die Schmerzgrenze war deutlich überschritten, wie die Reaktionen sowohl aus der Partei als auch der den Grünen nahestehenden Zivilgesellschaft zeigten. Es zeigte sich, dass die Situation in der Koalition ohnehin gerade ein SPD und FDP gegen Grüne ist, das heißt auch die Binnenkonstellation der Koalition hätte sich durch eine entsprechende Verweigerung nur marginal geändert. Hinzu kommt, dass offenkundig innere Spannungen zwischen dem Habeck-Lager und dem Baerbock-Lager bewusst genutzt worden sind. Daraus ergibt sich die Frage: Was kommt da noch als Politik der Ampel, welche die Grünen aufgrund ihrer Programmatik und Werte eigentlich nicht verantworten können. Die Frage stellt sich unter anderem auch deshalb, weil die FDP, die einst auf den Koalitionsvertrag pochte, diesen jetzt zum Beispiel schlicht aussitzt, wenn es um die Ausfinanzierung der von den Grünen gewollten Kindergrundsicherung geht. Es stellt sich also die Frage des Verhältnisses von politisch durchsetzbaren Sachverhalten und zu erwartenden weiteren Zumutungen. Verschärft wird dieses Grunddilemma dadurch, dass Opposition eigentlich keine Option ist, da die Grünen als Bündnispartei einen Gestaltungsanspruch haben und zeigen wollen, dass sie auch das Kanzler(innen)amt können. All dies geht von der Oppositionsbank aus schlecht. Dennoch stellt sich jetzt und perspektivisch die Frage, wieviel Glaubwürdigkeitsverlust man zu ertragen bereit ist. Dieses Problem trifft allerdings auch die Ampelkoalition insgesamt. Denn wenn diejenige Partei, die progressive Klima- und Sozialpolitik machen möchte, regelmäßig von den beiden anderen Koalitionspartnern machtpolitisch in die Schranken gewiesen wird, so stellt sich irgendwann die Frage, wie sich das Framing einer „Fortschrittskoalition“ oder die Überschrift des Koalitionsvertrages, nämlich „mehr Fortschritt wagen“ halbwegs konsistent diskursiv und politisch durchhalten lässt.

Das Grundproblem demokratisch legitimierter radikaler Klimapolitik

Die aktuelle Krise der Grünen wirft jedoch Fragen auf, die weit über diese Partei hinausreichen und für die politische Theorie interessant und zugleich beängstigend sind. Denn wenn in einem Land mit im internationalen Vergleich sehr starken Grünen diese auch in Regierungsverantwortung keine Klimapolitik implementieren können, die notwendig ist, um die globale Temperaturerhöhung effektiv zu begrenzen (Klein 2015), dann stellt sich die Frage, in welcher politischen Konstellation dies überhaupt gelingen kann.

Die gestiegene Individualisierung der Gesellschaft, die zu mehr NIMB führt, die grundlegende Kurzzeitpräferenz von Menschen (das Ausblenden langfristiger Schäden für kurzfristig erfreuliches), die Schwierigkeiten exponentiell zu denken, werfen die Frage auf, ob es politisch überhaupt möglich ist, die notwendigen demokratischen Mehrheiten für das naturwissenschaftlich Notwendige, nämlich effektive Klimapolitik, zu bekommen.

Konkret stellt sich in Deutschland jetzt die Frage, wen diejenigen wählen sollen, die für eine

naturwissenschaftlich begründbare Klimapolitik stehen. Diese Frage gewinnt an Brisanz, da mit der „Letzten Generation“ schon jetzt eine Radikalisierung der außerparlamentarischen Opposition beobachtbar ist. Es gibt also jetzt ein Resonanzproblem für radikale Klimapolitik, was auch zur Delegitimierung der Demokratie insgesamt beitragen können.

Natürlich hat es noch keine „Ökodiktatur“ gegeben, und die Warnung vor genau dieser dient meist dem Versuch der Aufrechterhaltung des energie- und klimapolitischen status quo. Dennoch kann sich, wenn die Klimakrise weiter voranschreitet und existenziell bedrohlich wird, gleichzeitig aber keine Schnittmenge von demokratisch legitimierter und naturwissenschaftlich notwendiger Klimapolitik ergibt, die politische Systemfrage stellen. Auch das wird parteipolitisch zu Lasten der Grünen gehen.

Was die Grünen jetzt tun können

Neben der Diagnose ist natürlich auch spannend, was Bündnis90/Die Grünen jetzt tun können, um aus ihrer multiplen Krise zu kommen. Dies soll hier in 7 Punkten dargelegt werden.

Erstens sollte bei allen Vorschlägen bewusst auch die soziale Komponente, bzw. das Bewusstsein des Preises betont werden, um den eigenen sozial-ökologischen Anspruch auch zu untermauern.

Zweitens sollte öffentlich klar kommuniziert werden, dass es keine weiteren Relativierungen beim Klimaschutz gibt und im Gegenteil weitere Forderungen erhoben werden.

Drittens sollten sich sowohl Omid Nouripour als auch Ricarda Lang ein politisches Narrativ zurechtlegen, welches sie immer wieder kommunizieren, um erkennbar zu werden und aus dem Schatten ihrer beiden Vorgängerinnen und Vorgänger zu treten.

Viertens können die Grünen die beiden anderen Ampelparteien sowohl mit dem Koalitionsvertrag als auch deren eigenen Ansprüchen konfrontieren. Denn eine SPD, welche die Kindergrundsicherungs-verhinderung nicht verhindert, hat ein Problem, genau wie eine FDP als Rechtsstaatspartei, die aktiv die Klimaurteile aus Karlsruhe untergräbt.

Fünftens sollten sich Annalena Baerbock und Robert Habeck auf einen Modus vivendi verständigen, der auch für ihre jeweiligen Unterstützer verbindlich ist.

Sechstens sollten Die Bündnisgrünen die Zivilgesellschaft aktiv einladen und sich auch von ihr für Gewesenes kritisieren lassen, um die Verbindungen nicht komplett abreißen zu lassen.

Siebtens sollten die Grünen die Kommunikation von Klimapolitik viel personalisierter und konkreter gestalten. Denn wenn es an die eigene Gesundheit, den eigenen Lebensraum geht, dann sind Menschen nachweislich bereit zu handeln.

Literaturverzeichnis

Becker, Jens/Engelberg, Achim (2020): Im Fadenkreuz der Großmächte. Der Balkan und die Krisen der EU. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (1), S. 107–113.

Greffrath, Mathias (2020): Im Zeitalter der Verwüstung. Vom notwendigen Ende einer Epoche. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (1), S. 65–73.

Jaeggi, Rahel (2013). Entfremdung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.

Klein, Naomi (2015): Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima. Frankfurt/Main: S. Fischer.

Lucke, Albrecht von (2019): „Fridays for Future“: Der Kampf um die Empörungshoheit. Wie die junge Generation um ihre Stimme gebracht werden soll. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (3), S. 91–100.

Lucke, Albrecht von (2021): Alle gegen Annalena: Die Angst der Grünen – und vor den Grünen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (7), S. 5–8.

Olschanski, Reinhard (2020): 40 Jahre Grüne: Ökologie als Menschheitsthema und Machtfaktor. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (1), S. 74–85.

Reckwitz, Andreas (2018): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. 5. Auflage. Berlin: Suhrkamp Verlag.