Ein außen- und militärpolitischer Paradigmenwechsel an einem Sonntag
Am Sonntag, den 27.02.2022, einem schon jetzt historischen Tag, kam der Deutsche Bundestag auf Bitten des Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) zusammen, um über die deutsche Politik im Kontext des Russland-Ukraine-Krieges zu beraten. Es ging dem Bundeskanzler vor allem darum, die veränderte Politik zu erklären, welche es jetzt als Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine gibt. Denn direkte Waffenlieferungen an die Ukraine, der Versuch der schnellstmöglichen Energieunabhängigkeit von russischem Erdgas, der vorherige Stopp von Nord Stream 2, vor allem aber die Ankündigung von 100 Milliarden für die Bundeswehr, fast ein Drittel des gesamten Bundesetats eines Jahres, all das ist präzedenzlos in der Geschichte der Bundespolitik. Es ist ein außen- und militärpolitischer Paradigmenwechsel, der präzedenzlos und begründungspflichtig ist.
Denn noch vor kurzen wurden direkte Waffenlieferungen in die Ukraine ausgeschlossen, wurde das 2%-Ziel der NATO hinsichtlich des Verteidigungsbudgets faktisch negiert, und es ist auch noch nicht allzu lange her, dass Olaf Scholz selbst Nord Stream 2 als rein privatwirtschaftliches Unternehmen bezeichnet hatte. Der Koalitionsvertrag sah bedeutende Exportrestriktionen für Waffen vor, und die FDP hat sich durchgesetzt, die Schuldenbremse im Koalitionsvertrag zu verankern. Der russische Einmarsch aber hat jetzt vieles verändert, und Olaf Scholz hat an diesem Sonntag offen und transparent seinen politischen Paradigmenwechsel erklärt (anders als es zu häufig bei der vorherigen Bundeskanzlerin Angela Merkel geschah). Ebenso ist er jetzt auch wirklich im Kanzleramt angekommen, am 81. Tag seiner Kanzlerschaft, und ganz sicher spielte in einer für seine Verhältnisse leidenschaftlichen Rede auch die persönliche Erschütterung über Wladimir Putin in den letzten Begegnungen eine Rolle.
Die möglichen Kriegsausgänge
Die russische Invasion hatte und hat das Ziel, in einem schnellen Krieg die Ukraine zu besiegen und dann, jedenfalls im Verständnis der Putin-Administration, die ukrainische Führung für ihre angeblichen Verbrechen zu bestrafen und eine neue einzusetzen. Sie hat ebenfalls das Ziel der Restauration eines russischen Reiches, einer Tilgung der Schmach der Implosion der Sowjetunion, welche der russische Präsident einst als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Wie es scheint, ist dieses Ziel eines schnellen militärischen Sieges aufgrund des überraschend starken Widerstandes der ukrainischen Armee, aber auch der relativ schnellen Reaktion der Europäischen Union unwahrscheinlich.
Dennoch ist es nach wie vor gut möglich, dass Russland den Krieg gewinnt, ein Marionettenregime anstelle des demokratisch gewählten Präsidenten Selenskyj installiert, und Russland sich entweder die Ukraine einverleibt oder als Vasallenstaaten und Puffer zum Westen hält, welcher (seit Jahren absehbar: Snyder: 2018) jetzt auch ganz offiziell das Feindbild Putins ist. Eines der Kernprobleme an diesem Szenario ist: wenn es eintritt, ist die Angst in allen postsowjetischen Staaten groß, dass es ihnen ähnlich ergehen wird wie der Ukraine. Vor allem in Staaten mit signifikanten russischen Minderheiten ist diese Sorge groß und berechtigt, denn Russland hat in seiner Nachbarschaft nun bereits mehrfach interveniert mit der Begründung des Schutzes der eigenen Bürgerinnen und Bürger. Dieser ging allerdings nicht selten eine „Passportisazija“, die bewusste Herausgabe russischer Pässe voraus. Dieses Muster wurde jetzt auch im ukrainischen Donbass angewendet.
Das zweite Szenario ist die weitere, beidseitige Eskalation des Krieges innerhalb eines militärischen Patts, welches dann zu einem Abnutzungskrieg führt, der mit relativer Sicherheit ab einem bestimmten Punkt in Friedensverhandlungen endet, welche zumindest die Existenz der Ukraine als eigener Staatlichkeit erhalten, sicher auch Sicherheitsgarantien für Russland wie der Nichtbeitritt zur Nato, und bestimmte territoriale Konzessionen, wahrscheinlich die Krim sowie Donezk und Luhansk innerhalb der Zonen der autonomen Republiken. Die genaue Verhandlungslösung hinge dann vom weiteren Kriegsverlauf und den entsprechenden Verhandlungspositionen ab. Das Problem ist, dass die Ukraine dann einerseits verwundbar bleibt, andererseits Putins Machthunger nicht gestillt ist, und dies daraus resultierend stets ein prekärer Friede bliebe.
Das dritte Szenario ist eine Wendung des Krieges, einerseits durch die Waffenlieferungen westlicher Staaten an die Ukraine, aber auch die Schwächung Russlands durch die Sanktionen, sowie die Unterstützung der globalen Zivilgesellschaft auf Seiten der Ukraine, wie wir es jetzt schon durch das Hackerkollektiv „Anonymous“ erleben, welches offiziell Russland den Krieg erklärt hat und bereits am Sonntag Webseiten russischen Institutionen lahmgelegt hat. Sobald die Opferzahlen steigen, die russische Propagandalüge der militärischen Spezialoperation nicht mehr aufrechterhalten werden kann, die wirtschaftlichen Einschnitte zu groß werden, erhebt sich wahrscheinlich die russische Zivilgesellschaft trotz brutaler Repressionen eines zunehmend despotisch regierten Staates (vgl. Acemoglu/Robinson: 2019). Damit gerät die Macht der Putin-Administration ins Wanken, und der politische, ökonomische und militärische Preis wird zu hoch. Nur dieses Szenario ist mit den ukrainischen und europäischen Interessen vereinbar.
Natürlich gibt es ebenfalls noch das Szenario, dass es tatsächlich zu einer Konfliktausweitung mit der gesamten NATO kommt, und im ganz schlechten Fall zu einem Atomkrieg, jedoch sind die drei aufgezeichneten Szenarien die wahrscheinlichen Kriegsausgänge. Aus deutscher und europäischer Perspektive kann hierzu nur festgehalten werden: Nur in Szenario drei, der militärischen Niederlage Russlands, kann man davon ausgehen, dass Russland zum System internationaler Vereinbarungen, multilateraler Institutionen (Krell: 2019) zurückkehrt. Denn nur dann kann es sich nicht mehr über Verträge und Regeln hinwegsetzen. Dass es dies nicht nur tun würde, sondern es auch tun wird, hat es nicht erst bei der Annexion der Krim und der faktischen Annexion der Ostukraine bewiesen, sondern spätestens jetzt, bei der Invasion der gesamten Ukraine, die viele nicht für möglich hielten, die aber dennoch eingetreten ist. Genau deshalb hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede am Sonntag auch gesagt:
„Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf. Ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts. Oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen“.
Olaf Scholz, 27.02.2022
Wenn das das Ziel westlicher Politik ist, und dies aus guten Gründen, da die regelbasierte Ordnung erstens für Jahrzehnte den Frieden erhielt und den Wohlstand erhöhte (vgl. Kagan: 2021), und zweitens politisch wie moralisch wünschenswert ist (Forst: 2015), da es eine zivile Konfliktregelung ermöglicht.
Warum Aufrüstung der einzige Weg zum strategischen Ziel liberaler Demokratien ist
Das bedeutet, dass das westliche Ziel der Wiederherstellung der regelbasierten Ordnung und starker multilateraler Institutionen sowie die Geltung des Völkerrechts und Verträgen davon abhängt, dass es einem Akteur wie Putin nicht möglich ist, sich einfach mittels Machtpolitik darüber hinwegzu-setzen, und damit eine Neoanarchie in den Internationalen Beziehungen zu schaffen.
Dieses Ziel wird jedoch nur dann erreicht, wenn er erstens den Krieg in der Ukraine verliert und damit seine militärischen Kapazitäten (die er offenkundig entgrenzt bereit ist einzusetzen) erschöpft sind, und wenn kein Zweifel daran besteht, dass es bei einem Angriff auf einen NATO-Staat (wie die baltischen Länder) zu einer effektiven militärischen Antwort des Westens kommen würde, welche den Preis eines solchen Krieges für Putin viel zu hoch macht.
Es wurde in den letzten Jahren deutlich, dass insbesondere die Bundeswehr diesen neuen Anforderungen nicht gewachsen ist. Sie ist zu einer Einsatzarmee geworden, in der vieles nicht funktioniert, die Bundeswehrreformen nicht wirklich funktioniert haben, die Innere Führung deutlich zu wünschen übrig lässt, in der vor allem aber viel technisches Gerät schlicht nicht einsatzfähig ist . Genau deshalb ist sie jetzt die Adressatin eines beispiellosen Geldregens, der sowohl die Landesverteidigungsfähigkeit sichern soll, als auch die Modernisierung aller Armeeteile, als auch die Fähigkeit, effektiv die Bündnisverpflichtungen innerhalb der NATO tatsächlich erfüllen zu können.
Im konkreten Falle des russisch-ukrainischen Krieges sind daher auch die direkten Waffenlieferungen an die ukrainische Armee (neben den Sanktionen) die einzige Möglichkeit, das entsprechende Kriegsergebnis im eigenen Interesse zu erhalten. Hinzu kommt, dass die politischen Kosten für Deutschland, sich gegen direkte Waffenlieferungen auszusprechen, immer größer wurden, als es sich zunächst anders als (fast) alle anderen europäischen Staaten gegen direkte Waffenlieferungen (sowie den Ausschluss aus dem SWIFT-Bankensystem) aussprach.
Mit den Waffen sowie der entsprechenden Unterstützung ist dann die Möglichkeit gegeben, dass Russland sich zurückziehen muss. Dann, und nur dann, ist nicht nur die territoriale Integrität sowohl der Ukraine als auch anderer postsowjetischer Staaten gesichert, sondern auch die Möglichkeit gegeben, sich in entsprechenden Verhandlungen von Putin nicht erpressen zu lassen, da er bis auf die atomare Option keine weiteren Machtmittel hat (diese wird er allerdings auch nicht ausspielen, weil er um die Zweitschlagskapazität der NATO weiß).
In der Ukraine wird jetzt allerdings auch die neue Systemkonkurrenz zwischen Demokratien und autoritären bzw. totalitären Staaten (Levitsky/Ziblatt:2018; Appadurai: 2017) erstmals direkt als heißer, konventioneller Krieg ausgetragen. Denn es stehen sich exakt zwei solcher Staaten gegenüber, und genau deshalb geht es in diesem Krieg tatsächlich auch exemplarisch um die Verteidigung von Demokratie und Freiheit, wie es im Bundestag am Sonntag mehrfach gesagt wurde. Wenn Russland den Krieg tatsächlich gewinnen würde, und dies kaum spürbare Konsequenzen und eine relativ schnelle Rückkehr zum Normalgeschäft samt einiger kaum wirksamer Sanktionen hätte (wie es nach der Krim-Annexion geschah), wäre dies nur eine weitere Ermutigung, auch an anderer Stelle mittels Macht das Recht zu brechen. In Taiwan wird sehr genau registriert, wie es der Ukraine nun ergeht, erst Recht in den Baltischen Staaten.
Umsetzungsschwierigkeiten und Widerstände als Ambivalenzen dieser Aufrüstungen
100 Milliarden sind eine unglaublich große Menge Geld. Klar ist, dass dies überhaupt gar nicht sofort verarbeitet werden können. Schon jetzt ist das Beschaffungswesen der Bundeswehr ein großer Flaschenhals, der deutlich überfordert ist. Natürlich ist die Wunschliste der Bundeswehr lang, aber gerade komplexe militärische Gerätschaften benötigen einen entsprechenden Vorlauf. Ebenso dürfte das Verteidigungsministerium administrativ überfordert sein, so schnell derart viel Geld zu verwenden, und es besteht die evidente Gefahr, dass ein nicht unerheblicher Teil dessen wieder in ineffektiven Beraterhonoraren versickert.
Politisch ist der Preis natürlich sehr hoch. Denn ab sofort wird bei fast allen politischen Forderungen, die Geld kosten (also fast alle), darauf verwiesen werden, dass es ja für die Bundeswehr auch möglich war, quasi aus dem Nichts 100 Milliarden bereitzustellen. Die Begründungen für weiteres Sparen wären deutlich schwieriger. Ebenso hat die Union in Person von Friedrich Merz bereits deutlich gemacht, dass es hier kein einfaches Abnicken geben wird, da dies natürlich neue Schulden sind, auch wenn Bundesfinanzminister Christian Lindner diese als „Freiheitsinvestitionen“ bezeichnet. Mittels einer Sitzung des Bundestages kann dies nicht einfach einmal implementiert werden.
Gerade die direkten Waffenlieferungen stehen vor dem ganz praktischen Problem, dass die russischen Streitkräfte die Lufthoheit haben, und diese daher nicht in Konvois transportiert werden können (welche zu leichte militärische Ziele wären). Die jetzt versprochenen Waffen müssen überhaupt erst einmal bei der ukrainischen Armee ankommen, und das wird in dieser unübersichtlichen Situation logistisch nicht leicht. Hinzu kommt, dass bei einer entsprechend zu erwartenden Zerstörung von Transportfahrzeugen das ggf. auch als russischer Angriff zu werten ist. Das russische Militär wird jedenfalls nicht tatenlos zusehen, dass die ukrainische Armee aufgelöst wird. Und es stellt sich natürlich immer bei Waffenlieferungen die Frage, wie dieser nachverwendet oder im besten Falle zurückgegeben werden.
Kurzum: es gibt diverse Unwägbarkeiten und Ambivalenzen, und das politische Risiko für Bundeskanzler Scholz ist hoch, dass er nach der Ankündigung der Impfpflicht bis März (die es so schnell nicht mehr geben wird, wenn überhaupt) erneut eine umfassende und ambitionierte Ankündigung nicht einhalten kann, was dann seine Glaubwürdigkeit und Amtsautorität beschädigt.
Si vis pacem, para bellum: Realismus versus Pazifismus in geschichtlicher Betrachtung
Ebenso stößt diese Aufrüstung natürlich auf erhebliche politische Widerstände, insbesondere bei der politischen Linken. Es wird eine Verhandlungslösung und Deeskalation gefordert, allerdings nicht erklärt, wie man dies ohne entsprechende Machtmittel bei einem nicht regelbasierten und hochaggressiven Akteur wie Putin erreichen will Es wird politisch auch darauf verwiesen, dass Aufrüstung niemals zum Frieden beigetragen habe. Teilweise wird auch grundlegend pazifistisch argumentiert, und genau damit die Aufrüstung der Bundeswehr sowie die direkten Waffenlieferungen abgelehnt. All dies sind legitime und den demokratischen Diskurs bereichernde Positionen, und ein notwendiges diskursives und politisches Revitalisierungsprogramm für DIE LINKE. Jedoch: in historischer Perspektive ist gerade die absolute Position, dass Aufrüstung niemals zur Friedensssicherung beigetragen habe, mehrfach falsifiziert, und damit schlicht falsch.
Es beginnt bereits in der griechischen Antike. Der militärisch hoch gerüstete Stadtstaat Sparta schuf eine für die Zeit der griechischen Poleis enorm lange Phase von militärischer Hegemonie, in der die üblichen Kämpfe zwischen den verschiedenen Poleis eingehegt wurde (Ottmann 2001, S. 86). Natürlich war Sparta kriegerisch, auch nach außen, aber es schuf durch Abschreckung Frieden innerhalb seines Einflussbereiches.
Eine Grundweisheit des römischen Imperiums war: si vis pacem, para bellum. Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Natürlich war das römische Reich expansiv, es hat eine unglaubliche Anzahl von Menschen getötet, es wurde allerdings für eine lange Zeit gerade aufgrund seiner militärischen Stärke nicht angegriffen (Morris 2015, S. 16), und innerhalb eines großen Territoriums herrschte Frieden aufgrund millitärischer Aufrüstung und Überlegenheit (vgl. Winkler:2009).
Jedoch braucht es keine solch weiten historischen Ausflüge hin zur Antike, um aufzuzeigen, dass gerade Aufrüstung zum Frieden führen kann. Als Hitlerdeutschland die Welt mit Krieg überzog, war es die Aufrüstung und das energische Einschreiten der Anti-Hitler-Koalition, allen voran der Sowjetunion (Priestland: 2009), welche die Wehrmacht stoppte. Natürlich kann Putin heute nicht mit Hitlerdeutschland damals gleichgesetzt werden, dennoch war auch hier das Grundprinzip, dass es erst eines aufgerüsteten Militärs bedurfte, um den Krieg zu beenden, und danach eine (im Kern bis Donnerstag stabile) Nachkriegsordnung zu errichten.
Auch der Kalte Krieg, der natürlich in Stellvertreterkriegen wie dem Korea-Krieg, dem Vietnam-Krieg und an vielen weiteren Stellen auch zu einem Heißen Krieg wurde (Chenoweth: 2020), war trotz der Blockkonfrontation innerhalb Europas eine Zeit des militärischen Friedens (Thränert 2019,S. 46). Denn es war schlicht unvorhersehbar, wie ein konventioneller, aber auch ein atomarer Krieg ausgehen würde, aber es war stets klar, dass der Preis viel zu hoch war. Das Prinzip der gegenseitigen Abschreckung, es war alles andere als schön, und das Damoklesschwert eines heißen Krieges hing im Kalten Krieg stets über den Köpfen Aller. Aber das Damoklesschwert fiel innerhalb Europas eben nie herunter. Und wir sind spätestens seit der russischen Invasion der Ukraine in einem neuen Kalten Krieg zwischen westlichen Demokratien auf der einen und autoritären bzw. totalitären Staaten, allen voran Russland und China, auf der anderen Seite (Moniz/Nunn:2020; Harari: 2018; Levitsky/Ziblatt: 2018).
Allerdings ist auch die Ukraine selbst ein prominentes Beispiel dafür, dass gerade Abrüstung zur Eskalation führen kann (auch wenn dies natürlich der moralischen Intuition widerspricht). Die Ukraine hat im Budapester Memorandum 1994 den Verzicht auf seine Atomwaffen (welche sie noch aus der Sowjetzeit hatte) angekündigt, und im Gegenzug dafür von Russland die dauerhafte und volle territoriale Souveränität zugesichert bekommen, welche jetzt durch die Invasion maximal verletzt wird. Die Ukraine ist kein NATO-Mitglied, weshalb in der Logik Putins er es erst einmal nur mit der ukrainischen Armee zu tun haben würde, und dies erschien aufgrund der quantitativen Überlegenheit militärisch gewinnbar, bei akzeptablen Kosten, und mit der Konsequenz einer massiven Machtausweitung sowie der Durchsetzung seiner postregelbasierten internationalen Ordnung. Wäre die Ukraine tatsächlich NATO-Mitglied oder ein Atomwaffenstaat gewesen, wäre sie mit deutlich reduzierter Wahrscheinlichkeit angegriffen worden. Gerade die Ukraine selbst ist also ein Beispiel dafür, dass Abrüstung das Gegenteil von dem erreichen kann, was sie beabsichtigt (dennoch gibt es natürlich nach wie vor das andere, positive Abrüstungsbeispiel Costa Ricas, welches seine Armee komplett abschaffte, und in Eintracht mit seinen Nachbarn lebt).
Das Grundproblem des Pazifismus, also der unbedingten Enthaltsamkeit vom Militärischen, hat die Spieltheorie hervorragend auf den Punkt gebracht: wenn es zwei Akteure gibt, von denen einer grundlegend friedlich ist, einer aggressiv (und das hat Putin jetzt bewiesen), dann kommt es eben nicht zur gewünschten Kooperation, sondern zur einseitigen Interessendurchsetzung, wie bereits auf der Krim und in der Ostukraine zu beobachten war). Auch die Diplomatie braucht entsprechende Druckmittel, um effektive Verhandlungsergebnisse zu erzielen, welche auf beidseitig akzeptable Lösungen ausgerichtet sind (Fisher/Ury/Patton:2019). Der Pazifismus ist moralisch edel, aber er beantwortet eben nicht die Frage, wie man mit einem grundlegend aggressiven Akteur umgeht, und hierfür braucht es leider die Schule des Realismus, zu der auch die Aufrüstung sowie eine klare Analyse des Agierens Putins gehört.
Fazit:
Nur wenn ein autonomer Akteur wie Putin, der in einem quasi-diktatorischen Präsidialsystem regiert, der von Großmacht- und Restaurationsambitionen erfüllt ist, nicht mehr die Macht hat, Mittels Macht sich über das Recht hinweg zu setzen, kann es zu einer Kriegslösung kommen, die mit der territorialen Integrität der Ukraine und europäischen Interessen vereinbar ist sowie die Rückkehr zur regelbasierten internationalen Ordnung ermöglicht. Dazu bedarf es der Aufrüstung, sowohl mittels Waffenexporten, als auch der Bundeswehr. Dies widerspricht den nach dem von Deutschland vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieg natürlich massiv sowohl dem verbreiteten Pazifismus als auch dem Wunsch, sich aus Konflikten herauszuhalten. Dennoch kann genau das, dieses Heraushalten, dazu führen, dass wir künftig noch mehr Konflikte haben. Von allen schlechten Optionen, die es angesichts der politischen sowie militärischen Lage gibt, in der wir uns nach Putins Invasion befinden, ist die Aufrüstung sowohl der Ukraine als auch der Bundeswehr die am wenigsten schlechte Option, und sie steht im Einklang mit den Lehren der Geschichte.
Und wir dürfen eines nicht vergessen: Der Letztzweck des Staates ist seit Thomas Hobbes der Schutz und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger: Wenn andere sich nicht an Regeln und Verträge halten, wenn es auch keinen globalen Akteur gibt, der die Machtmittel hat, diese auch durchzusetzen (und genau das ist die aktuelle geopolitische Weltlage), dann braucht es die Fähigkeiten zur kollektiven Selbstverteidigung. Denn nur dann kann sich Macht nicht über das Recht hinwegsetzen.
Literatur
Acemoglu, Daron/Robinson, James (2019). Gleichgewicht der Macht: Der ewige Kampf zwischen Staat und Gesellschaft. Frankfurt am Main: S.Fischer Verlag.
Appadurai, Arjun (2017). Demokratiemüdigkeit. In Geiselberger, Heinrich (Hg.). Die Große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp, S. 17-36.
Chenoweth, Erica (2020). The Future of Nonviolent Resistance. Journal of Democracy, 2, S. 69-84.
Fisher,Walter/Ury, Melvon/Patton, William (2019). Das Harvard-Konzept. Die unschlagbare Methode für bessere Verhandlungsergebnisse. München: Deutsche Verlags Anstalt.
Forst, Rainer (2015). Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Harari, Yuval Noah (2018). 21 Lektionen für das 21.Jahrhundert.
Kagan, Robert (2021). Zur Supermacht verdammt. Warum die Führungsrolle der USA unerlässlich ist. Blätter für deutsche und internationale Politik, 4,S. 63-75.
Krell, Gerhard (2019). Weltordnung oder Weltunordnung. Theoretische Leitperspektiven in den Internationalen Beziehungen. Zeitschrift für Politik, 1, S. 4-33.
Levitsky, Steven/Ziblatt, Daniel (2018). How Democracies Die. New York: Crown.
Moniz, Ernest/Nunn, Sam (2020). Aufrüstung statt Dialog: Vor der nuklearen Apokalypse? Blätter für deutsche und internationale Politik, 2, S. 51-62.
Morris, Ian (2013). Krieg. Wozu er gut ist. Frankfurt am Main: Campus.
Ottmann, Henning (2001). Geschichte des politischen Denkens. Die Griechen – von Homer bis Sokrates. Band 1/I. Stuttgart: Metzler.
Priestland, David (2009). Weltgeschichte des Kommunismus. Von der Französischen Revolution bis Heute. München: Siedler.
Snyder, Timothy (2018). Der Weg in die Unfreiheit. Russland Europa Amerika. München: Beck.
Thränert, Oliver (2019). Rüstung außer Kontrolle: Die neue atomare Bedrohung. Blätter für deutsche und internationale Politik, 2, S. 45-50.
Winkler, Heinrich August (2009). Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20.Jahrhundert. München: Beck.