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Zehn Gedanken zur Wahl in Thüringen

Erstens:

Mit der Thüringer Wahl schreitet der Trend der Erosion der einstigen Volksparteien dramatisch voran. CDU und SPD kamen zusammen auf etwa 30 Prozent, was präzedenzlos ist und ein weiteres Indiz dafür, dass die Große Koalition im Bund den Niedergang der klassischen Volksparteien (Koppetsch 2019: 26; Merkel 2015: 17) deutlich weiter voranschreitet. Dies wird natürlich Auswirkungen auf die Binnenprozesse innerhalb dieser Parteien haben, nämlich einerseits eine Stärkung das Kandidatenduos Borjans/Esken, zweitens den weiteren Machtverfall von Annegret Kramp-Karrenbauer.

Zweitens:

Diese Wahl war ein unglaublicher Erfolg für Bodo Ramelow als Politiker. Er hat es als erster geschafft, dass DIE LINKE unter seiner Führung in Regierungsverantwortung als Partei gewonnen hat. Er wird von sensationellen 99% der eigenen Wählerschaft als guter Ministerpräsident, und genießt selbst im bürgerlichen Lager Vertrauen. Jede dritte Person, die die Linke gewählt hat, kam durch Bodo Ramelow auf genau diese Idee. Ebenso war dieses Ergebnis das stärkste, was DIE LINKE bisher hatte, und das erste Mal, dass sie stärkste Kraft bei einer Landtagswahl war. Zudem ist gerade kein realistisches Szenario denkbar, in welchem er als Ministerpräsident abgelöst wird. Damit ist er sowohl politisch als Ministerpräsident als auch innerparteilich gestärkt, denn er gehört jetzt zu den ganz wenigen Wahlgewinnern. Jedoch ist dieses exzeptionelle Wahlergebnis für DIE LINKE in Thüringen mit der Person Bodo Ramelow verknüpft, ähnlich wie es für die Grünen bei Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg der Fall ist. Und gerade Kretschmann zeigt aktuell, dass dies nicht die letzte Legislatur von Bodo Ramelow sein muss.

Drittens:

Das Wahlergebnis ist für DIE LINKE nur eine temporäre Erleichterung. Denn die strukturellen Probleme wie die starke Überalterung in den ostdeutschen Landesverbänden, die ungeklärten programmatischen Konflikte, das defiziente Konfliktmanagement und das nicht-mehr-profitieren von der Schwäche der SPD ist nach wie vor gegeben. Dieser jetzige Wahlerfolg lässt sich auch daran kontextualisieren, dass DIE LINKE in Thüringen bei der jüngsten Kommunalwahlen nur 15% bekam. Hinzu kommt, dass es durchaus möglich ist, dass es zu einer Kooperation oder Koalition mit der CDU kommt, die auf bestehende innerparteiliche Konflikte noch einen draufsetzt. Es ist also eher nur eine Verschnaufpause für die Partei, welche auf den ersten Blick die Wahlsiegerin wir.

Viertens:

Für die AfD und Björn Höcke war diese Wahl natürlich ein Erfolg, aber kein herausragender Erfolg. Denn der Mann, welcher die AfD maßgeblich als Frontmann des Flügels weiter nach rechts verschiebt und eine zentrale Figur im Netzwerk der Neuen Rechten ist (Fuchs/Middelhoff 2019: 132-133), hat das Ergebnis der AfD mehr als verdoppelt. Die diversen Rechtsverschiebungen dieser Partei, ihre verbalen Ausfälle waren für alle sichtbar, und dennoch sind sie auch in Thüringen in enormem Maße gewählt worden. Hier kommt ihnen zugute, dass sie traditionell in ländlichen Räumen stark abschneiden (Koppetsch: 2019; Heitmeyer: 2018), ebenso in abgehängten Städten und Regionen wie Gera. Natürlich war es ein Erfolg, vor der CDU zu landen, aber es war eben auch ein sehr klarer zweiter Platz. Dennoch wird der nationalistische„Flügel“ nach diesen insgesamt sehr erfolgreichen ostdeutschen Landtagswahlen die AfD wohl noch weiter nach rechts verschieben.

Fünftens:

Ostdeutschland bleibt bei Landtagswahlen besonders. Für mehr als zwei Jahrzehnte lag die Besonderheit des Ostens darin, dass die PDS bzw. DIE LINKE im Osten deutlich stärker war als in den alten Bundesländern und teilweise sogar Volksparteistatus beanspruchen konnte. Jetzt aber ist die selbsternannte Alternative für Deutschland deutlich stärker als in den alten Bundesländern (Frei/Morina/Maubach/Tändler: 2019). Hierin zeigt sich, dass Deklassierungserfahrungen und strukturelle Brüche nach der Wiedervereinigung bis heute nicht verarbeitet wurden, der Protest sich jedoch nach rechts verschoben hat (Simon: 2019; Köpping: 2018; Lederer/Miemiec: 2016). Insgesamt ist in Ostdeutschland das Wahlverhalten schwankender, es gibt deutlich mehr Wechselwähler*innen und Protestwähler*innen, die ohnehin schwindenden Milieubindungen sind noch geringer als in den alten Bundesländern. Seit den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern hat es jetzt immer den Effekt gegeben, dass die stärkste Regierungspartei immer auch Leihstimmen bekommen hat, insbesondere auch um die AfD als stärkste Kraft zu verhindern. Daraus ergibt sich, dass die Demokratie insgesamt gefestigt und intakt ist, obgleich sie zunehmend von Rechts unter Beschuss gerät (Bednarz/Giesa: 2015).

Sechstens:

Die Krise der Sozialdemokratie, welcher wir mit der Ausnahme der iberischen Halbinsel europaweit erleben, sie schreitet weiter voran (von Lucke: 2015). Obgleich Wolfgang Tiefensee sogar ein vergleichsweise bekannter und beliebter Spitzenkandidat war, ging in Thüringen die SPD neben der starken Linken schlicht unter. Mit der Ausnahme Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns werden jetzt einstellige Ergebnisse für die Sozialdemokratie die Regel bei ostdeutschen Landtagswahlen, aber sie dürfen nicht der Anspruch sein. Solange die SPD jedoch einerseits in einer selbstreferenziellen Vorsitzendenwahl und andererseits in der Großen Koalition gefangen ist, wird es kaum aufwärts gehen. Das Problem der fehlenden Visibilität der SPD wird in der Zukunft in Ostdeutschland wird noch größer werden, denn sie sind jetzt in einigen Landesregierungen ein sehr kleiner Partner

Siebtens:

Für die Grünen war dieses Wahlergebnis eine ausgesprochene Wahlschlappe. Seit der Übernahme der Parteispitze durch Annalena Baerbock und Robert Habeck kannte die Partei nur Wahlsiege. Es wurde letztes Jahr explizit die Wichtigkeit der ostdeutschen Landtagswahlen für den weiteren strategisch anvisierten Weg zur stärksten politischen Kraft im Mitte-Links-Block anvisiert. Das absolute Minimalziel aber war es, nicht wegen der Fünf-Prozent-Hürde bangen zu müssen. Auch dies wurde nicht erreicht. Zwar wurde viel explizite grüne Politik in der ersten rot-rot-grünen Legislatur umgesetzt, und die Grünen hatten in Thüringen wie in Brandenburg und Sachsen das Problem, dass einige ihrer eigentlichen Wählerinnen und Wähler taktisch eine andere Partei wählten, um die AfD als stärkste Kraft zu verhindern. Dennoch darf es jetzt nicht passieren, dass der grüne Fokus weg von Ostdeutschland geht, nur weil die Wahlen suboptimal liefen.

Achtens: Das Ergebnis war durchaus eine zwischenzeitliche Stärkung für die FDP. Zwar waren sie nicht, wie selbst proklamiert, das Zünglein an der Waage, aber immerhin kamen sie mit einem denkbarst knappen Wahlergebnis wieder in den Landtag. Dies stärkt auch die Parteiführung um Christian Lindner, die seit der Absage der Jamaika-Verhandlungen wenig strategische Erfolge oder gar Wahlerfolge vorweisen kann.

Neuntens:

Das Ergebnis der Landtagswahlen in Thüringen zeigt, dass die politische Ausdifferenzierung und damit Komplexität weiter voranschreitet. Erstmals sind sechs Parteien im Landtag vertreten, und erstmals könnte es theoretisch Viererkoalitionen geben. Regierungsbildungen werden damit insgesamt schwieriger, und die Kompromissanforderungen steigen. Dies aber führt dazu, dass die Profile der regierenden Parteien aufgrund der strukturell notwendigen Kompromisse weiter verschwimmen, die programmatischen Gegensätze noch weniger erkennbar werden (Crouch: 2008). Dieser Prozess, der wesentlich auf die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und Politik rückführbar ist sowie auf die Erosion der ehemaligen Volksparteien, stärkt leider das Narrativ der AfD, dass die anderen Parteien Kartellparteien seien, und wird dazu führen, dass der traditionelle politische Antagonismus zwischen linkem und bürgerlichem Lager auf absehbare Zeit der zwischen demokratischen und rechtspopulistischen Kräften sein wird (Koppetsch: 2019)

Zehntens:

Der thüringische Landtagswahlkampf steht paradigmatisch und traurigerweise für die Verrohung der Gesellschaft, der Sprache (Bednarz/Giesa: 2015) und der politischen Kultur. Das operieren mit Mitdrohungen, und das nach der realen Exekution Walter Lübckes, ein vergifteter Tonfall und ein mit enormer Schärfe geführter Wahlkampf ist letztlich nur ein Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen. Dem gilt es, mit robuster Zivilität (Ash: 2016), aber eben auch mit Anstand und einer wertebasierten Kommunikation seitens prodemokratischer Kräfte entgegenzutreten (Haidt: 2012). Denn so wie die demokratische Mehrheit zwar gegeben, aber keine Selbstverständlichkeit ist, so ist es mit der Zivilisiertheit und einer akzeptablen und toleranten politischen Kultur. Dies alles muss immer wieder aufs Neue erstritten werden.

Literatur

Ash, Timothy Garton (2016). Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt. München: Hanser

Bednarz, Liane/Giesa, Christoph (2015). Gefährliche Bürger. Die neue Rechte greift nach der Mitte. München: Hanser.

Crouch, Colin (2008). Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Frei, Norbert/Morina, Christina/Maubach, Franka/Tändler, Maik (2019). Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus.

Fuchs, Christian/Middelhoff, Paul (2019). Das Netzwerk der neuen Rechten. Hamburg: Rowohlt.

Haidt, Jonathan (2012). The righteous mind. Why good people are divided by politics and religion. New York: Basic Books.

Heitmeyer, Wilhelm (2018). Autoritäre Versuchungen. Berlin: Edition Suhrkamp.

Koppetsch, Cornelia (2019). Die Gesellschaft des Zorns. Bielefeld: transcript Verlag.

Köpping, Petra (2018). Ostdeutschland oder das große Beschweigen. Wie die Fehler der Nachwendezeit unsere Demokratie vergiften. Blätter für deutsche und internationale Politik, 10, S. 42-50.

Lederer, Klaus/Miemiec, Olaf (2016). Was kommt nach dem Protest? Der Aufstieg der AfD und die Krise der Linken. Blätter für deutsche und internationale Politik, 10, S. 97-104.

Merkel, Wolfgang (2015). Die Herausforderung der Demokratie. In Merkel, Wolfgang (Hg.). Demokratie und Krise. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Simon, Annette (2019). Wut schlägt Scham. Das „Wir sind das Volk“ der AfD als nachgeholter Widerstand. Blätter für deutsche und internationale Politik, 10, S. 41-50.

Von Lucke, Albrecht (2015). Die schwarze Republik und das Versagen der Linken. München: Droemer.