Vielleicht liegt es an meiner grundlegend optimistischen Lebenseinstellung, vielleicht auch daran, dass es schlicht manchmal mein Job ist, selbst im größten Mist noch was Positives zu finden. Aber tatsächlich, so groß die pandemische „Gesamtscheiße“ auch ist und die Einschränkungen sind, so sehr eröffnet es auch Chancen.
1. Wir dürften wieder gelernt haben, dass es auf jede und jeden ankommt, und kein Mensch eine Insel ist.
Ich sehe in dieser Erfahrung der Gesellschaftlichkeit des Menschen (Aristoteles lässt schön grüßen) auch ein ganz neues Potenzial für Solidarität.
2. Dieser beknackte Präsentismus in den Büros, der zu unnötigen Pendlerströmen und Verkehrsaufkommen führt, kann endlich beendet oder zumindest reduziert werden.
Mit dem Recht auf Home Office, vor allem aber mit der Einsicht, dass das geht, sollte das auch in Zukunft möglich sein.
3. Könnten wir alle mal kollektiv lernen, dass wir auch Einschränkungen überstehen können.
Eine gemeisterte Krisenerfahrung stärkt bekanntlich die Resilienz, so dass wir schlichtweg als Gesamtgesellschaft, genau wie asiatische Gesellschaften, besser auf die (wohl unausweichliche) nächste Pandemie vorbereitet sind. Allerdings müssen wir uns jetzt intensiv um diejenigen kümmern, die ökonomisch oder psychisch straucheln.
4. Ist das auch eine sinnvolle Lektion in Verzicht.
Wir werden doch erleben, dass es sich auch ohne ständiges Shopping und Spektakel leben lässt. Diese Erfahrung der Möglichkeit des Verzichts ist aber auch, dass lässt sich schon jetzt sagen, eine wichtige Vorbedingung für die Bewältigung der Klimakrise.
5. Führt die Pandemie notwendig dazu, dass wir reflektieren, wer uns wirklich wichtig ist.
Denn wir sind ja angehalten, Kontakte zu reduzieren. Das heißt aber, dass wir (von Coronaleugner*innen abgesehen) denjenigen, die wir real treffen wollen, einen ganz besonderen Wert beimessen. Denn wir nehmen ja für das Treffen ein Restrisiko der Ansteckung in Kauf. Das ist natürlich erstens eine schöne gegenseitige Botschaft. Es ist aber auch grundsätzlich immer mal sinnvoll, sich zu überlegen, wer einem wichtig ist.
6., und das ist die große Schattenseite, die aber trotzdem Sonnenseitenpotenzial hat: viele von uns werden erleben, was Einsamkeit ist.
Es ist eben nicht das Gleiche, über Zoom mit Leuten zusammenzusitzen. Diese (existenzielle) Erfahrung der Einsamkeit aber wird das Mitgefühl für einsame Menschen nach der Krise sicher erhöhen. Ich hoffe tatsächlich nach wie vor perspektivisch auf ein Einsamkeitsministerium nach britischem Vorbild, denn gerade aufgrund des demographischen Wandels wird das Thema immer wichtiger werden.
7. Kann die Herausforderung durch die Verschwörungsschwurbler auch zu einer neuen Wertschätzung von Wissenschaft und Faktizität führen, jedenfalls bei der Mehrheit der Gesellschaft.
Denn wir erleben schon jetzt, wie schlecht Gesellschaften durch die Pandemie kommen, die nicht auf die Wissenschaft hören (USA, Brasilien). Ebenso wird auch zunehmend deutlich, dass Fake News schlichtweg Menschenleben gefährden und kosten.
8. Steckt auch in dem Diskurs um „Systemrelevanz“ ein fortschrittliches Potenzial.
Denn es hat sich ja gezeigt, dass die als systemrelevant (welches System eigentlich genau?) angesehenen Berufe nicht die gut bezahlten sind. Das heißt, dass der Gebrauchswert mancher Arbeitskraft nicht ihrem Lohnniveau entspricht, und daher (allerdings nur in Kombination mit steigender gewerkschaftlicher Organisation) wir hier dauerhaft einen Konsens herstellen können, dass systemrelevante Berufe besser zu bezahlen sind.
9. Kann Corona auch zu mehr Geschlechtergerechtigkeit führen.
Denn jetzt lernen die Männer, die gern mal weniger Hausarbeit und Reproduktionsarbeit machen, was viele Frauen häufig so alles tun. Und es wird nicht wenige Frauen geben, die keinen Bock haben, nach der Krise in die alten Rollenmuster zurückzugehen. Zudem wird die Krise im Durchschnitt Berufe mit mehr Frauen besserstellen (Care-Arbeit wird dringender denn je benötigt), während in der Produktion Jobs wegfallen werden, was zu mehr ökonomischer Gleichheit und Gleichberechtigung führen kann.
10. Ist das einfach mal eine Lektion in Demut.
Es ist eben nicht alles, von dem wir dachten, dass es selbstverständlich ist, selbstverständlich. Was wird das für eine Freude sein, die Freunde bei der nächsten Grillparty zu umarmen. Die Nacht durchzutanzen, gemeinsam mit anderen. Weihnachten mit der Familie zusammensitzen, ohne sich darum zu sorgen, dass die eigene Anwesenheit andere gefährdet. Wieder fremde Länder zu erkunden. Nach Zeiten der Entbehrung wird das ein Fest werden. Wie sagte Hölderlin einst so schön: wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch! Persönlich denke ich: Auch in solch schwierigen Zeiten, und die stehen uns bevor, darf der Optimismus nicht verloren gehen. Alles im Leben hat zwei Seiten, auch die Pandemie!