Postpolitik: Ein Wahlkampf, in dem sich über die falschen Sachen gestritten wurde
Wahlkämpfe sollten eigentlich dazu da sein, dass sich über politische Inhalte, über grundlegende Gesellschafts- und Politikkonzepte, über verschiedene Policies (also konkrete politische Vorhaben), aber natürlich auch über die Bilanz der bisherigen Regierung auseinandergesetzt wird. Wahlkämpfe können und sollen konfrontativ, zuspitzend und durchaus auch anstrengend sein. Denn das Wesen der Politik ist ja tatsächlich der Kampf, der Kampf um Macht (Luhmann: 2002; Weber: 1992), der Kampf um das bessere Argument (Kopperschmidt: 2000), der Kampf um die Emotionen der Wählerinnen und Wähler (Nussbaum: 2014) der Kampf um die politische Meinungsführerschaft (Corcuff: 2021; Lakoff: 2014).
Doch worüber wurde tatsächlich gestritten: Über Fußnoten, über angemessene und unangemessene Mimiken, über die Frage ob die Parteien (in souveräner Wahl der Delegierten) die richtigen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten ausgewählt haben, und viele andere Themen, die objektiv betrachtet Nichtigkeiten sind, aber sicher für symbolische und kulturelle Kämpfe (Corcuff: 2021; Reckwitz: 2020) hoch interessant sein könnten.
Die wirklich interessanten und kniffligen Fragen wurden jedoch kaum oder gar nicht behandelt. Diese wären (ohne Priorisierung) aus der Sicht des Autors: wie schaffen wir es, eine radikale Klimapolitik zu machen, die den Erfordernissen der Wissenschaft entspricht (vgl. Neckel, 2021), aber kaum eine demokratische Legitimation finden dürfte? Finden wir es okay, dass die Wertebasis der Europäischen Union durch zwei zunehmend autoritäre Regime in Polen und Tschechien untergraben wird (vgl. Linden: 2021; Müller: 2016) und damit zugleich die europäische Glaubwürdigkeit und soft power sinkt, oder müssen wir das hinnehmen für den Preis geopolitischer Gestaltungsfähigkeit? Wie schaffen wir ein Rentenkonzept, welches nicht einerseits dafür sorgt, dass wir irgendwann die Hälfte des Staatshaushaltes in die Rente zahlen müssen, oder andererseits durch Haltelinien bei den Prozenten staatlich legitimierte Altersarmut befördern? Sind wir bereit, für gleiche Bildungschancen unserer Kinder im Zweifel mehr pandemische Erkrankungen und dann letztlich auch mehr Tote hinzunehmen, oder nicht, gerade vor dem Hintergrund der ungleichen Lastenverteilung innerhalb der Pandemie in den ersten drei Wellen?
Natürlich würden sich noch viele weitere Fragen stellen, die zu klären wären, aber kaum im Wahlkampf von Relevanz waren. Diese Fragen haben allesamt zwei Charakteristika gemeinsam: Erstens, sie sind sehr unangenehm. Zweitens, sie sind sehr komplex. Dass sie erstens unangenehm sind und deshalb verdrängt werden, ist sicher auch ein Erbe der Merkel-Ära, denn die Zustimmungsfähigkeit zur Kanzlerin hin mit ihrem großen Geschick zusammen, Zumutungen zumindest gefühlt von uns fernzuhalten oder zu externalisieren (von Lucke: 2021). Der zweite Faktor, die Komplexität als genuiner Faktor des Politischen, soll der Kerninhalt dieses Textes werden. Denn dieser Wahlkampf war geprägt von Komplexitätsvermeidung, teils sogar von Komplexitätskapitulation.
Skandalisierbarkeit der Kanzlerkandidat*innen als Komplexitätsfrage
Wir haben in diesem Wahlkampf erlebt, dass alle drei Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten es mit Skandalen zu tun hatten (ob realen oder zugeschriebenen, sei hier erst einmal dahingestellt). Wir hatten insbesondere den Maskenskandal sowie die Aserbaidschan-Connection der CDU bei Armin Laschet, genau wie sein unangemessenes Lachen bei der Gedenkveranstaltung zu den Flutopfern. Wir hatten den Skandal um nicht erklärte Nebeneinkünfte, fehlende Fußnoten und einen geschönten Lebenslauf bei der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Und wir hatten die fehlende Finanzaufsicht bei Wirecard, den Cum-Ex-Skandal sowie die Untersuchungen im Finanzministerium zur Aufklärung der Tätigkeiten der Financial Intelligence Unit (FIU), die allesamt mit dem politischen Handeln bzw, Nichthandeln des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz zu tun hatten.
All diese Skandale waren Instrumente zur Reduktion der Glaubwürdigkeit der Person (Krapinger: 2016), welche in bewusster politischer Absicht geschahen (vgl. Edmüller/Wilhelm: 2014). Diese sind durchaus auch strategisch sinnvoll, da wir in immer stärkerem Maße erleben, dass Wahlkämpfe personalisiert (Crouch: 2008) bzw. durch Persönlichkeiten entschieden wurden (Bein: 2018). Bei fast allen jüngsten Landtagswahlen spielte die Person des Ministerpräsidenten bzw. der Ministerpräsidentin eine wahlentscheidende Rolle, folglich ist ein negative Campaigning der jeweiligen Kanzlerkandidat*innen zwar schmutzig, aber sinnvoll, und es hat ja auch teilweise gewirkt.
Bei Annalena Baerbock hat das negative Campaigning stark gewirkt, bei Armin Laschet mittelmäßig und bei Olaf Scholz kaum. Genau das sehen wir auch in den Veränderungen der Umfragen entsprechend. Einer der Erklärungsansätze hierfür ist die immer noch verbreitete Misogynie, also Frauenhass, der gerade digital stark entfaltet wird. Dies würde zwar erklären, warum Frau Baerbock stärker getroffen ist als die männlichen Kanzlerkandidaten, aber nicht deren Differenz. Genau deshalb wird hier ein anderer Erklärungsansatz für die unterschiedliche Wirkung vorgeschlagen: die unterschiedliche Komplexität, bzw. Verstehbarkeit der Skandale.
Eine Beschönigung eines Lebenslaufes ist allgemein verständlich und gilt als unanständig, die nicht rechtzeitige Meldung von Einkünften auch, und nicht wenige dürften beides auch aus persönlichem Handeln können. Ebenso ist vielen klar, was es heißt, wenn Fußnoten fehlen, jedenfalls allen, die schon einmal akademisch gearbeitet haben. Zudem hatten wir schon vorher einige Plagiatsskandalae (Annette Schavan, Karl Theodor zu Guttenberg etc.), durch die das Phänomen deutlich wurde. Annalena Baerbock hatte es also mit Skandalen einfacher Komplexität zu tun.
Bei den Maskenskandalen ist natürlich deutlich, worum es geht, und abzulehnen, dass sich Menschen durch Maskendeals bereichert haben, und es ist auch frappierend, dass dies im Prinzip ausschließlich eine Partei betraf, nämlich die CDU. Allerdings waren die Konstruktionen, mit denen die Maskenskandale abgewickelt wurden, schon nicht mehr ganz so verständlich, und die Verwicklungen von Armin Laschets Sohn wurden auch nicht wirklich aufgeklärt. Ebenso ist das Lobbying gegen Geld, welches einige CDU-Abgeordnete im Rahmen der Aserbaidschan-Affäre tätigten, auch nicht sofort verständlich. Für alle absolut nachvollziehbar ist jedoch, dass Lachen bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer die Flutkatastrophe absolut pietätlos und unangemessen ist. Armin Laschet hatte es also insgesamt mit Skandalen mittlerer Komplexität zu tun, wobei ihn der Skandal mit der geringsten Komplexität am meisten getroffen hat.
Olaf Scholz´ Skandale sind hingegen deutlich schwieriger und komplexer, und teils ohne tiefe wirtschaftswissenschaftliche und steuerrechtliche Einblicke kaum verstehbar. Es ist für Laien kaum nachvollziehbar, wo und an welcher Stelle genau bei Wirecard die Finanzaufsicht versagt hat. Den Cum-Ex-Skandal kann man nicht in den berühmten 90 Sekunden des Arbeitsgedächtnisses erklären, und auch die nicht eingetriebenen Mittel bei seinen alten Kumpels von der Warburg-Bank sind nicht so leicht verständlich. Schon eher, dass er als erster Bürgermeister bei der Gewährleistung der Sicherheit bei G20 versagt hat, und dass er einst Brechmittel anordnete, was wohl mit zum Tod von Achidi John im Jahre 2001 beitrug, aber lange her ist, und bis heute nicht wirklich aufgeklärt wurde.
Der Witz der Skandale in diesem Wahlkampf war also: Die Skandale mit der geringsten Komplexität hatten den geringsten Schaden für andere bzw. die Gesellschaft als Ganzes, aber den größtmöglichen Schaden für die jeweiligen Kandidatin bzw. den jeweiligen Kandidaten. Ein Komplexitätsproblem a la carte.
Die politischen Vorhaben und die Komplexität
Bei der Union, die sich klassisch als Regierungspartei versteht, ist die konkrete Programmatik eher vage und unklar. Allerdings hat sie auch keine ambitionierten Projekte, keine gesellschaftspolitische Vision oder bestimmte Politiken, die sehr stark von dem abweichen, was wir bisher erleben. Zwar kann sie diskursiv den Widerspruch nicht auflösen, warum sie nach 16 Jahren Regierungszeit für Erneuerung oder ein „Modernisierungsjahrzehnt“ stehen soll, aber sonderlich komplex sind ihre Vorhaben nicht.
Bei der SPD steht der Respekt im Vordergrund. Es soll der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht, die Renten stabilisiert und Vermögende stärker zur Kasse gebeten werden, um einige Kernvorhaben zu skizzieren. Dies sind allesamt sozialdemokratisch absolut erwartbare Vorhaben (Morozov: 2020; Meyer: 2008). Vor allem aber: sie sind halbwegs verständlich, vielleicht mit Ausnahme dessen, wie genau die Rente stabilisiert werden kann.
Die Grünen hingegen haben es hinsichtlich ihrer Programmatik mit einem echten Komplexitätsproblem zu tun. Es geht ihnen um nichts weniger als eine sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie betonen auch in ihrem Wahlkampf immer wieder die Notwendigkeit von umfassender Veränderung. Jedoch ist allein der Mechanismus des Energiegeldes, welches sie für Normalverbraucher zurückgeben wollen, nicht so leicht verständlich, ebenso die Auswirkung sowie Erfassung einer umfassenderen CO²-Steuer, und auch eine feministische bzw. menschenrechtsgeleitete Außenpolitik sind sehr komplexe Vorhaben, die sich kaum in 90 Sekunden, der besonderen Grenzlinie menschlicher Aufmerksamkeit (vgl. Hasselborn/Gold: 2017), erklären und verdeutlichen lassen. Das heißt, einerseits stellt sich die Frage, ob die Menschen politisch der Programmatik der Grünen zustimmen. Andererseits aber gibt es auch das Hindernis, dass sie es überhaupt erst einmal verstehen und gedanklich durchdringen können. Diese doppelte Bürde hat sich im Wahlkampf gezeigt.
Die Grünen und die NIMB sowie der Appetenz-Aversions-Konflikt
Es gab Zeiten, in denen waren die Grünen bei 28% in den Umfragen, nämlich direkt nach der erfolgreichen Verkündung der Kanzlerinkandidatur von Annalena Baerbock. Seitdem haben sie fast die Hälfte an Zustimmung verspielt, was wiederum erklärungsbedürftig ist. Neben dem Problem der Verstehbarkeit, aber auch der zunehmenden politischen Volatilität (also starken Schwankungen der Zustimmungwerte; Rosa: 2012) gibt es zwei weitere Konzepte, mit denen dieser Absturz erklärlich ist. Das erste ist der Not in my Backyard Ansatz (vgl. Reckwitz: 2018), das zweite der Appetenz-Aversions-Konflikt (Heckhausen/Heckhausen: 2005). Beide sollen kurz erläutert werden
Der Not-in-my-backyard-Ansatz beschreibt, dass Menschen abstrakt für Veränderungen sind, aber nur genau bis zu dem Punkt, wo es für sie konkret wird oder gar nachteilig. Denn abstrakt sind ganz viele für Klimaschutz, da das Bewusstsein, dass es angesichts der Klimakrise so nicht weitergehen kann (Wallace-Wells: 2019), durchaus gegeben ist. Jedoch endet dieses Verständnis genau dann, wenn der Spritpreis steigt, Windräder in der Nähe aufgestellt werden, Solarzellen verpflichtend auf die Dächer sollen, der Fleischpreis steigt oder der Verbrenner 2030 auslaufen soll. Dann genau wird die Zustimmung zur Ablehnung, und hier steht dann doch der Egoismus über der Vernunft. Genau das ist der Kern der NIMB.
Der Appetenz-Aversions-Konflikt ist ein grundlegendes Konzept der Motivationspsychologie, welches die Ambivalenz mancher Sachverhalte sehr gut beschreibt. Es besagt, dass Dinge von weiter Ferne aus sehr gut aussehen, aber je näher sie kommen, insbesondere zeitlich, umso mehr sieht man dann auch die negativen Aspekte. Beispiel Auslandssemester: Am Anfang winkt ein neues Land, neue Kontakte, viele Erlebnisse und Erkenntnisgewinn. Dann aber stellen sich Fragen wie: wo finde ich eine Wohnung, werden die Studienleistungen angerechnet, komme ich überhaupt zurecht? Genau so verhält es sich mit den Grünen und der Klimapolitik. Von weitem betrachtet sieht es total gut aus, die Umwelt zu schützen und etwas für das Klima zu tun. Jedoch zeigt sich dann, wenn es konkret wird, mit was für Entbehrungen und Einschnitten das einhergehen kann, weshalb dann eben die ursprüngliche Attraktivität doch zu sinken beginnt. Mit einer solchen Doppelseitigkeit von Verheißung und Entbehrung haben die anderen Parteien nicht zu kämpfen gehabt. Vor allem aber wird aus der Nähe deutlich, wie komplex der Klimaschutz ist.
Fazit: Die Komplexität als genuiner Erklärungsfaktor
Es ist deutlich geworden, dass sowohl persönlich, als auch programmatisch, als auch strategisch die Komplexität eine immer stärkere Rolle spielt, und dass sie Sachverhalte erklären kann, die anders kaum erklärbar sind. Sie ist zunehmend ein politischer Faktor, und es wird in immer stärkerem Maße die Aufgabe der Parteien und Personen sein, die Komplexität angemessen zu vermitteln und nicht in die Falle der Komplexitätskapitulation seitens der Wählerinnen und Wähler zu geraten.
Verwendete Literatur dieses Textes
Bein, Simon (2018). Von der Demokratie zur Postdemokratie? Zeitschrift für Politische Theorie, 1, S. 51-72.
Corcuff, Philippe (2021). La grande confusion. Comment l´extréme droite gagne la bataille des idees. Paris: Edition Textuels.
Crouch, Colin (2008). Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Edmüller, Andreas/Wilhelm, Thomas (2014). Manipulationstechniken. So wehren sie sich. Freiburg: Haufe.
Hasselborn, Marcus/Gold, Andrea (2017). Pädagogische Psychologie. Erfolgreiches Lehren und Lernen. Stuttgart: Kohlhammer.
Heckhausen, Heinz/Heckhausen, Jutta (2005). Motivation und Handeln. Berlin: Springer Wissenschaft.
Kopperschmidt, Josef (2000). Argumentationstheorie zur Einführung. Hamburg: Junius.
Krapinger, Gerhard (2016). Aristoteles Rhetorik. Stuttgart: Junius.
Lakoff, George (2014). The all new don´t think of an elephant. Know your values and frame the debate.
Linden, Markus (2021). Revolutionärer Konservatismus. Der rechte Angriff auf Freiheit und Demokratie. Blätter für deutsche und internationale Politik, 1, S. 62-72.
Luhmann, Niklas (2002). Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Meyer, Thomas (2008). Sozialismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Morozov, Evgeny (2020). Digitaler Sozialismus. Wie wir die Sozialdemokratie ins 21. Jahrhundert holen. Blätter für deutsche und internationale Politik, 1, S. 100-106.
Müller, Jan-Werner (2016). Populismus. Ein Essay. Berlin: Edition Suhrkamp.
Neckel, Sighard (2021). Im Angesicht der Katastrophe. Der nahende Zusammenbruch des Erdsystems und die sozial-ökologische Transformation. Blätter für deutsche und internationale Politik, 2, S. 51-58.
Nussbaum, Martha (2014). Politische Emotionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Reckwitz, Andreas (2020). Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Edition Suhrkamp.
Reckwitz, Andreas (2018). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Edition Suhrkamp.
Rosa, Hartmut (2012). Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Von Lucke, Albrecht (2021). Das Ende der Merkel-Ära: Aus Krise wird Katastrophe. Blätter für deutsche und internationale Politik, 9, 5. 5-8.
Wallace-Wells, David (2019). Ausblick auf das Höllenjahrhundert. Warum wir im Kampf gegen die Klimakrise keine Sekunde mehr verlieren dürfen. Blätter für deutsche und internationale Politik, 11, S. 47-57.
Weber, Max (1992). Politik als Beruf. Stuttgart: Reclam.