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Was die Grünen jetzt tun sollten – politisch, kommunikativ, strategisch

Einleitung: Den Ernstfall unterschätzt und unnötige Fehler gemacht

Die Bündnisgrünen haben bei dieser Bundestagswahl erstmals die Chance, die Kanzlerin der Bundesrepublik zu stellen, und diese Chance haben sie nach wie vor. Dies zeugt vom enormen Aufstieg dieser Partei (Habeck: 2021; von Lucke: 2021a; Olschanski: 2020), und trotz der derzeitigen Probleme befindet sie sich nach wie vor stabil über 20% in den Umfragen, was mehr als eine Verdopplung zum letzten Bundestagswahlergebnis wäre. Die Lage ist also nicht so ernst, wie sie derzeit manchmal dargestellt wird.

Bis zur Verkündung der Kanzlerinkandidatur waren die Bündnisgrünen auf einer besonderen Erfolgsspur: Die Mitgliederzahlen binnen weniger Jahre fast verdoppelt, bei der Europawahl erstmals bei rund 20% bei einer bundesweiten Wahl gelandet, und bei fast allen Landtagswahlen zugelegt. Im Gegensatz zur Schlammschlacht zwischen Markus Söder und Armin Laschet um die Kanzlerkandidatur der Union (von Lucke: 2021a) war die Aushandlung hochprofessionell, ebenso die Verkündung, bei der Annalena Baerbock eine nach allen rhetorischen Maßstäben (Krapinger: 2016; Knape: 2000) exzellente Rede hielt.

Danach aber begannen unnötige Fehler, allerdings auch eine Kampagne sondergleichen. Dass der Lebenslauf auf alle möglichen Schwachstellen hin geprüft werden würde, ebenso Zahlungsflüsse: das war alles vorhersehbar. Leider sind auch bei uns die Wahlkämpfe zunehmend polarisiert und gehen zunehmend direkt gegen die Glaubwürdigkeit von Politikerinnen und Politikern, wie wir es von US-Wahlkämpfen kennen (Pörksen/Schulz von Thun: 2020; Pörksen: 2019; Habeck: 2018). Hinzu kommen in ungeahnter Schärfe tatsächliche Fake News (vgl. Schaeffer: 2018; Butter: 2018), wie Annalena will Haustiere verbieten oder die Witwenrente zugunsten von Geflüchteten kürzen. Leider bleibt davon etwas hängen.

Die Angst vor dem Machtverlust der Konservativen sorgt für einen sehr unangenehmen Wahlkampf. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hat eine unsägliche Kampagne gestartet, die ihresgleichen sucht. Und es spielt auch eine gehörige Portion Frauenhass mit hinein. Auffällig ist jedenfalls, dass die Skandale eines Armin Laschet (Sohn in Maskendeals verwickelt, erratische Corona-Politik, Nichtthematisierung von Hans-Georg Maaßen) oder bei Olaf Scholz (Warburg-Bank, Cum-Ex-Skandal, unklare Rolle bei Wirecard) kaum Schaden hinterlassen, obwohl sie objektiv viel gravierender sind als nicht rechtzeitig gemeldete Einkünfte oder fehlende Quellenbelege in ihrem Buch.

Das Problem ist allerdings: Die Grünen stehen für das Menschheitsthema der Bewältigung der Klimakrise, und sie wurden als moralische Instanz wahrgenommen und waren ja auch lange Zeit skandalfrei. Hinzu kommt, dass sie in ihrer Kommunikation, gerade vor Annalena und Robert, auch gern moralisierten. Dieses Gefühl moralischer Unterlegenheit seitens der Anderen kommt nun in Form von Verachtung zurück, sobald es die ersten moralisierbaren Verfehlungen gibt. Dies erklärt teilweise die Heftigkeit der Reaktionen, aber es kommt eben auch ein Faktor hinzu: dass Annalena eine Frau ist, und an Frauen in der Politik und in Führungspositionen ganz andere, härtere Maßstäbe angelegt werden. Darüber ist zu sprechen, auch und gerade im Wahlkampf.

Es gab dieses Momentum, insbesondere nach der Verkündung der Kanzlerinkandidatur, als die Grünen erstmals mit 28% in den Umfragen vor der Union waren, und in verschiedensten Medien schon durchdiskutiert wurde, was eine grüne Kanzlerin bedeuten würde. Dieses Momentum war und ist wichtig, und trotz unnötiger Fehler ist es nach wie vor möglich, es zurückzugewinnen. Genau davon handelt dieser Text. Eines erscheint aber nach den letzten Wochen auch klar: es braucht einen schlagkräftigen und gut funktionierenden Parteiapparat, wenn es politisch ernst wird, und man nach der Macht, bzw. nach der Kanzlerinschaft greift. Die Implikationen dessen sind wohl unterschätzt worden. Aber besser die Fehler früh als im Endspurt machen, aber ab jetzt kommunikativ, politisch und strategisch eine klare, erkennbare Linie fahren, die verloren Glaubwürdigkeit zurückgewinnt.

Das strategische Hauptproblem: Kampf gegen die Klimakrise ja, aber not in my backyard

Die ganzen Skandälchen der letzten Wochen haben natürlich ein sehr wertvolles politisches Gut verringert, nämlich die Glaubwürdigkeit (Pörksen: 2019; Krapinger: 2016). Dennoch ist das nicht entscheidend. Denn was sich in der Diskussion um die Zulassung von Eigenheimbauten, das mögliche Verbot innerdeutscher Flüge oder jüngst die Benzinpreisdiskussion eindrucksvoll zeigt: Zwar ist eine überwältigende Mehrheit theoretisch und abstrakt für mehr Klimaschutz, und findet es auch wichtig, dass hier etwas getan wird (von Lucke: 2019; Rahmstorf, Stefan/Schellnhuber, Hans-Joachim: 2018). Wenn es jedoch konkret wird, vor allem aber, wenn es in irgendeiner Form Einschnitte, gefühlte Verluste oder Mehrkosten bedeuten würde. Das ist zwar unlogisch, aber derart inkonsistente Präferenzen sind psychologisch nicht ungewöhnlich. Paradoxerweise gelingt es der Union, deren Klimapolitik jüngst sogar vom Bundesverfassungsgericht in einem wegweisenden Urteil als ungenügend kritisiert wurde, genau dieses Gefühl zu vermitteln: wir tun etwas fürs Klima, aber es wird nicht wehtun. Die Grünen hingegen tun sich schwer damit, klar zu sagen, dass es Einschnitte geben wird, da sie weder als unsozial noch als Verbotspartei dastehen wollen. Dadurch aber sind die Aussagen hierzu oft diffus, widersprüchlich und manchmal auch schlicht schwammig.

Hinzu kommt der auszuhaltende Widerspruch zwischen Fridays for Future und Teilen der Basis einerseits, die eine noch viel konsequentere Klimapolitik einfordern (von Lucke: 2019), und wohl auch zurecht bemerkten, dass selbst die grüne Programmatik bei vollständiger Umsetzung kaum ausreichend ist, um die Klimakrise angemessen zu bremsen, jedenfalls wenn man der Wissenschaft folgt (vgl. Scheidler: 2021; Greffrath: 2020). Andererseits aber gilt es, gesellschaftliche und politische Mehrheiten zu gewinnen, und hier zeigt sich eine erstaunliche Beharrungsresistenz trotz klarer Faktenlage, aber eben auch der Wunsch, nach dem Lockdown endlich wieder Normalität zu haben, wozu natürlich eine radikale Programmatik kaum passt. Auch von letzterem Wunsch profitiert die Union derzeit stark. Die Antwort auf diesen Spagat ist ganz sicher nicht einfach, sie ist vor allem aber noch nicht klar gegeben.

Es ist Zeit, kommunikativ die Samthandschuhe beiseite zu legen

Die kommunikative Strategie der Bündnisgrünen bisher war sehr klar und sehr erfolgreich: wir reden über uns, über die eigenen Themen, und dethematisieren die politischen Mitbewerber. Vor allem wird kein negative campaigning betrieben und eine demonstrative politische Konstruktivität gezeigt. Dies ist vor allem dadurch nachvollziehbar, dass es darum geht, bis weit ins bürgerliche Lager hinein Wählerinnen und Wähler anzusprechen. Diese sind auch zu gewinnen, wenn es um die Kanzlerinschaft geht. Jedoch führte dies dazu, dass insbesondere die Union kommunikativ zu lasch angegangen wurde. Angesichts der teils heftigen, personalisierten und nicht selten destruktiven Angriffe von CDU und CSU sind gezielte, aber wohldosierte politische Angriffe immer noch vereinbar mit dem strategischen Ziel der stilistischen kommunikativen Differenz der Union.

Hier kann vor allem immer wieder die Botschaft gesetzt werden, dass die Programmatik der Union nicht ausreicht, um die bestehenden Probleme zu lösen, ob Klimakrise (Wallace-Wells: 2019), Rentenkrise (Brussig/Postels/Zink: 2017) oder die unzureichende Digitalisierung des Landes (vgl. Lender: 2019). Denn das paradoxe Narrativ der Union, dass wir zwar die Probleme lösen werden, aber ohne dass es irgendjemandem wehtut, gehört zuerst zerstört, weil es angesichts der Dringlichkeit der Probleme falsch ist. Es sollte immer wieder deutlich werden: Die Politik der Union mag zur Stabilität versprechen, sorgt aber für wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Instabilität. Und zwar nicht erst morgen, sondern schon heute. Schon in diesem Sommer, der für viele zu einer Belastung wird, gerade in NRW konkret Menschenleben kostet, und durch mangelnde Pandemievorsorge sowieso.

Ebenso kann klar aufzeigt werden, dass insbesondere Armin Laschet sich immer wieder um klare Antworten drückt. Und um tatsächlich eine inhaltliche Wechselstimmung zu erzeugen, ist es auch wichtig, klar darauf hinzuweisen, was man denn anders machen würde als die Union. Denn somit können sich Menschen bewusst dafür entscheiden, dass sie genau diese Veränderung wollen, und davon möglichst viel, egal in welcher Konstellation. Ebenso sollten Defizite und Versäumnisse insbesondere der Großen Koalition schonungslos offengelegt werden. Denn so bleibt grün auch für diejenigen eine Option, die eigentlich kein schwarz-grün wollen, aber wenn es eben nicht anders geht so starke Grüne wie möglich. Andererseits geht es natürlich auch darum, die eigene Basis, aber auch den grünen-affinen Teil der Zivilgesellschaft zu mobilisieren, und das geht über eine lebensnahe Ansprache, klare Inhalte samt inhaltlicher Differenzen und eine verständliche Kommunikation.

Die bisherige, zurückhaltend-konstruktive kommunikative Strategie war sehr erfolgreich. Aber wenn sie jetzt, aufgrund der veränderten Wahlkampfkonstellation an ihre Grenze gerät, gehört sie verändert. Schon allein auch deshalb, um dem seit Wochen schwelenden Eindruck entgegenzuwirken, dass die Grünen kommunikativ in der Defensive sind. Gezielte inhaltliche Angriffe, aber sehr dosiert, sind das Mittel zur Wahl. Denn im Grundsatz gilt immer noch: wir reden über unsere Themen und Inhalte, nicht über die anderen (vgl. Wehling: 2016; Lakoff: 2014).

Eine Enkelkampagne fahren

Die Grünen sind bei Erst- und Jungwähler*innen bei den letzten Wahlen sehr stark gewesen. Das überrascht auch keineswegs, denn die Jungen sind von der Klimakrise, der unzureichenden Digitalisierung und der verschleppten sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft am meisten getroffen (von Lucke: 2019).

Demgegenüber sind es vor allem ältere Wählerinnen und Wähler, die der Union die Treue halten. Sicher auch, weil sie Angst vor allzu starken Veränderungen haben, oder weil für Sie die Union der Garant der Stabilität ist. Diese sind mit einer emotionalen Erzählung (vgl. Oswald: 2019) zu erreichen, nämlich einer Enkelkampagne.

Denn Generativität, das heißt der Wunsch nach Weitergabe persönlicher Werte, aber auch des Sorge-tragens für ein zufriedenes und glückliches Leben der Nachkommen, wohnt uns allen in unterschiedlich starkem Maße inne. Dass ihre Kinder und Enkel noch ein erfülltes Leben führen können, liegt vielen Großeltern am Herzen. Und sie fragen sich ja sehr häufig, was sie für ihre Enkel tun können. Hierauf kann eine klare Antwort gegeben werden: Diesmal grün statt schwarz (oder SPD) zu wählen. Denn so bekommt die Entscheidung noch einen emotionalen Mehrwert, und die Grünen können in einer Gruppe punkten, in der sie bisher sehr schwache Ergebnisse hatten. Denn wenn ich die Stimme für meine Enkel abgebe, dann tue ich konkret etwas für Sie, dann hat mein Wahlakt einen ganz anderen, tiefen und generativen Sinn. Für diese Idee der Enkelkampagne danke ich Heiko Tholen, Dip. Psych.

Dringlichkeit als Kommunikation für das Kanzlerinamt

Die Bündnisgrünen sollten trotz zuletzt gesunkener Umfragewerte nicht den Fehler machen, den Anspruch auf die politische Führung zu negieren. Denn es würde ihnen enorm nützen, wenn im Vorfeld der Wahl nicht klar ist, wer stärkste Kraft wird, denn dann können die Grünen mit taktischen Stimmen links der Mitte rechnen, welche die Grünen zur stärksten Kraft machen wollen (zulasten von SPD und LINKEN).

Nur sollte dies eben nicht (mehr) mit der rechnerischen Möglichkeit und den Wahlchancen begründet werden, sondern vor allem inhaltlich, mit der Dringlichkeit der Aufgaben. Denn es gilt, in der Bekämpfung der Klimakrise keine Sekunde mehr zu verlieren (Wallace-Wells: 2019). Es braucht die konsequente Digitalisierung der Gesundheitsämter bevor die vierte Welle mit aller Kraft rollt, vor allem auch, um diese zu brechen. Wir brauchen jetzt Antworten darauf, wie wir eine Verkehrs- und Agrarwende hinbekommen, da wir einerseits immer stärker im Verkehrschaos ersticken, und andererseits die Krefeld-Studie zum Insektensterben klar aufgezeigt hat, dass die bisherige, indsturiell organisierte konventionelle Landwirtschaft massiv zum Artensterben beiträgt (Scheidler: 2021; Wallace-Wells: 2019). Und da viele Weichen nur seitens des Bundes gestellt werden können, braucht es eben eine grüne Kanzlerin.

Hier kann ebenso in der Abgrenzung zu den politischen Mitbewerbern klar kommuniziert werden: wir sind die einzige politische Kraft, die den Mut hat, die weitreichenden und notwendigen Beschlüsse zu tätigen, die aber andererseits immer auch den sozialen Ausgleich mitdenkt und ein klares Programm für eine zukunftsfähige Wirtschaft hat. Bei der Union fehlt es an allen drei Komponenten.

Framing der Bundestagswahl als Klimawahl

Bei der Europawahl 2019 haben die Grünen 20,5 Prozent bekommen und damit ihr Ergebnis im Vergleich zur vorherigen Wahl fast verdoppelt. Dies hatte vielfache Ursachen. Eine davon war sicherlich, dass durch den sehr heißen Sommer 2018 die Klimakrise und ihre mittlerweile sehr konkreten Auswirkungen endlich für viele Menschen lebensweltliche Relevanz bekam, sie nicht mehr nur abstrakt blieb. Hinzu kommt, dass die Fridays-for-Future Bewegung schon vorher ein massives Momentum entfaltete (vgl. Menzel: 2020; Welzer: 2020; Lobo: 2019).

Das Thema hatte also eine Präsenz, wie es vorher nicht der Fall war, und das Feld der Klimapolitik ist zu einem für immer mehr Menschen wahlentscheidenden Faktor geworden. Hinzu kommt, dass dieses Thema eben nicht nur der Markenkern der Grünen ist, auch in ihrem Selbstverständnis (Bündnis 90/Die Grünen: 2021; Bündnis 90/Die Grünen: 2020; Bündnis 90/Die Grünen: 2019). Entscheidend ist aber hier vielmehr, dass den Grünen bei diesem Thema eine umfassende Kompetenz zugeschrieben wird, es also ein ausstrahlungsfähiger Markenkern ist. Dies ist sicher auch damit begründbar, dass die Grünen im Regierungshandeln mit dem weltweit ausstrahlungsfähigen Erneuerbare-Energien-Gesetz (Scheer: 2010), aber auch ihrer sehr konkreten Programmatik in der Klimapolitik geliefert haben, und dies auch wahrgenommen wurde, ja Resonanz erzeugt hat (vgl. Rosa: 2017). Genau deshalb wird die Zuschreibung einer Wahl als Klimawahl sich nahezu automatisch in einer hohen Zustimmung für die Bündnisgrünen äußern. Ebenso geht es jetzt darum, den Zusammenhang zwischen der Klimakrise und Unwetterereignissen immer wieder herzustellen. Denn bewusstes Framing ist nicht selten Wiederholung, und es geht darum, dass bestimmte gedankliche Verbindungen hängenbleiben. Hier gilt im konkreten Fall: Wir bekommen weder Sicherheit noch Stabilität, wenn wir die Klimakrise nicht entschieden bekämpfen. (Wehling: 2015; Lakoff: 2014)

Den Faktor Frau thematisieren

Bündnis 90/Die Grünen haben sich ja nicht umsonst für Annalena Baerbock entschieden. Neben vielen anderen Faktoren ging es natürlich auch darum, dem feministischen Eigenanspruch und Selbstverständnis Rechnung zu tragen, dass es ja gerade dann, wenn es um Führungspositionen geht, wichtig ist, dass Frauen auch tatsächlich zum Zuge kommen. Jetzt allerdings sollte dieser Faktor Frau viel stärker in die Außenkommunikation mit einfließen. Denn es wird ja deutlich, dass Annalena Baerbock deutlich anders behandelt wird als Olaf Scholz und Armin Laschet. Dass sowohl die Einkünftenachmeldungen als auch die fehlenden Fußnoten im Buch oder die Unklarheit über ihr Stipendium wirklich Lappalien sind im Vergleich zur multiplen Maskenaffäre der Union, dem beredten Schweigen Laschets zur Causa Hans-Georg Maaßen oder zu den Verwicklungen von Olaf Scholz in den Cum-Ex-Skandal, seine Untätigkeit gegenüber der Warburg-Bank, welche Millionen gekostet haben dürfte, oder seine unklare Rolle im Fall Wirecard.

An der Kanzlerinkandidatur von Annalena Baerbock zeigt sich exemplarisch, dass Frauen, allen Lippenbekenntnissen zur Gleichberechtigung zum Trotz, immer noch anders behandelt, kritischer beäugt werden, und sich ganz anders beweisen müssen, als dies bei Männern der Fall ist. Genau dies zu thematisieren, aber eben auch zu kritisieren, kann Solidarisierungseffekte bei den Frauen generieren, und diese stellen ja mehr als die Hälfte des Elektorats. Ebenso kann dieser wirklich massive Widerstand, der auch nicht selten ad personam geht, so thematisiert werden, dass weibliche Führungspositionen auch trotz Merkel-Ära keine Selbstverständlichkeit sind, es aber sein sollten. Für diesen Hinweis danke ich Romy Raecke, Dipl. Psych.

Eine konsistente Kommunikationsstrategie fahren – Demut und Inhaltlichkeit

Eines der wirklich hausgemachten Probleme der jüngsten Zeit war die teils erratische Kommunikation. Diese hat leider einiges an Glaubwürdigkeit (Pörksen: 2019; Edmüller/Wilhelm: 2014) gekostet, und das ist natürlich politisch ein besonderes Problem, gerade für eine Politikerin, die eben vergleichsweise neu in der Spitzenpolitik ist. Dadurch wird auch ihr strategisch stärkster Satz aus der Bewerbungsrede „Ich stehe für Veränderung, für den Status quo stehen andere“ entwertet, da sich jetzt nicht wenige sagen werden: die ist auch nicht anders als andere.

Vor diesem Hintergrund sollte die nachfolgende politische Kommunikation immer wieder von zwei grundlegenden Prinzipien ausgehen, nämlich Demut und Dringlichkeit. Anders als die Konservativen, die sich hinstellen, als hätten sie ein Dauerabonnement aufs Kanzleramt, sollte die Demut vor den gewaltigen Aufgaben (vgl. Lobo: 2019; Harari: 2018) klar betont werden, auch dieses Verständnis, dem Gemeinweisen zu dienen. Denn das ist auch etwas, das viele Merkel-Wähler*innen schätzen, das sich-selbst-nicht-so-wichtig-nehmen und die thematische Sache in den Mittelpunkt zu stellen (aber natürlich anders als Merkel mit echten Ideen, Erzählungen und Zukunftsvisionen. Zur Demut gehört auch, gemachte Fehler klar als solche zu benennen, gleichzeitig zu sagen, was man daraus gelernt hat, um dann aber wieder in die inhaltliche Diskussion zu gehen. Natürlich heißt Demut nicht, über jedes Stöckchen zu springen, aber es bedeutet, gemachte Fehler souverän als solche zuzugeben. Denn das grüne Politikverständnis geht ja auch nicht von Fehlerfreiheit und letzten Wahrheiten aus (Bündnis 90/Die Grünen: 2021).

Ebenso wichtig ist es, immer wieder auf die notwendigen inhaltlichen Veränderungen der zu verweisen, gerade bei der Klimakrise (Klein: 2015). Jedoch türmen sich auch viele andere Probleme auf, wenn nicht jetzt gehandelt wird, insbesondere der demographische Wandel und die Rentenkrise, aber auch das Artensterben. Es sollte immer wieder deutlich werden: die sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft ist keine Option unter vielen, sondern dringliche Tagesaufgabe, und die Bündnisgrünen haben die besten Rezepte dafür. Nur so kann einerseits das paradoxe Narrativ der Konservativen, nämlich abstrakte Veränderung ohne konkrete Veränderungen, durchbrochen werden, sowie eine inhaltliche Wechselstimmung. Denn das die Grünen bereit sind, erscheint halbwegs klar. Aber ob die Gesellschaft wirklich bereit ist, dahinter steht ein großes Fragezeichen. Genau deshalb ist es so wichtig, immer wieder die eigenen Inhalte und Konzepte in den Vordergrund zu rücken, und sie lebensweltlich relevant zu erklären: warum profitiert die Krankenschwester in der Stadt von den Grünen, warum selbst der Pendler auf dem Dorf? Das ist die Aufgabe, dies immer wieder eingängig und verständlich zu erläutern.

Auf Annalena vertrauen und sich nicht auf Nebelkerzendiskussionen einlassen

Die Grünen haben sich bewusst für Annalena Baerbock entschieden. Nicht im ersten Schritt, dieser wurde zwischen Robert Habeck und Annalena Baerbock ausgemacht. Sehr wohl jedoch im zweiten Schritt, nämlich ihrer Wahl zur Spitzenkandidatin. Daran änderte auch ein aus Versehen ins Mikrofon gesagtes „Scheiße“ nichts.

Annalena Baerbock hat sich in Potsdam einen Namen gemacht und sehr realistische Chancen, das Direktmandat gegen Olaf Scholz zu gewinnen. Sie ist zäh, widerstandsfähig, inhaltlich stets stark, pointiert in ihren Reden und hat die besondere Gabe, das Gegenüber emotional intelligent mitzunehmen. Ebenso kann sie aber auch sehr konkret ausbuchstabieren, was grüne Politik konkret bedeutet.

Derzeit ist hier natürlich eine entsprechende Angst, Fehler zu machen, die ihr zwei ihrer größten Stärken raubt: eine ausgestrahlte Unbekümmertheit, aber manchmal auch Forschheit, gerade in der direkten Konfrontation mit den politischen Mitbewerbern. Spätestens, wenn es an die Trielle mit Olaf Scholz und Armin Laschet geht, wird sie mit ihrer Kompetenz, ihrer emotionalen Ansprache, aber auch schlicht mit ihrem Temperament, welches antithetisch zu den habituellen Schlaftabletten Laschet und Scholz steht, punkten.

So, wie diverse Medien sie schon als Kanzlerin feierten, nachdem die Kandidatinnenkür so gut geglückt war, so sehr wurde sie dann heruntergeschrieben. Und es wird eine Phantomdiskussion darüber geführt, ob sie nicht die Kandidatur an Robert abgeben soll. Dies wäre der Tiefpunkt der Glaubwürdigkeit für eine feministische Partei, es wäre ein absoluter Ausdruck von Schwäche, gleich beim ersten Gegenwind das Führungspersonal zu wechseln, es wäre aber auch: illoyal (vgl. Haidt: 2012). Hinzu kommt die schlichte Überlegung, dass wir nicht wissen, was bei Robert Habeck im Falle seiner Kandidatur alles ausgegraben worden wäre und wie er reagiert hätte.

Eine Paradoxie jedoch bleibt: Nämlich die, dass einer der gewichtigen Gründe für die Wahl Annalenas auch jener war, dass sie keine groben Schnitzer macht, gerade im Vergleich zu Robert Habeck (Nichtkenntnis des Mechanismus der Pendlerpauschale, „Thüringen muss wieder demokratisch werden“ trotz grüner Regierungsbeteiligung, Abmeldung von Twitter). Aber auch das kann man aushalten und umframen: Wir machen vielleicht am Anfang Fehler, aber der Wahlkampf ist ein Marathon, und wir haben einen langen Atem.

Verwendete Literatur dieses Aufsatzes

Bündnis 90/Die Grünen (2021). Deutschland. Alles ist drin. Wahlprogramm zur Bundestagswahl. Berlin.

Bündnis 90/Die Grünen (2020). Grundsatzprogramm „…zu achten und zu schützen“. Berlin

Bündnis 90/Die Grünen (2019). Europawahlprogramm 2019. Berlin.

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Transparenzhinweis: Der Autor, Dr. Moritz Kirchner, ist seit Februar 2019 Mitglied von Bündnis90/Die Grünen