Ich habe mehrere Menschen durch die Coronakrise verloren, darunter zwei, die mir tatsächlich einmal wichtig waren. Der Grund war zum Glück nicht, dass sie verschieden sind an der Krankheit. Die Gründe waren und sind: Verschwörungstheorien. Denn mit Menschen, die so etwas verbreiten, habe ich nichts zu tun. Dies gilt unabhängig davon, wie eng ich vorher mit diesen Menschen war: Wer Verschwörungstheorien verbreitet, hat meinen persönlichen Rubikon überschritten.
Natürlich macht es mich traurig, diese Menschen verloren zu haben. Jedoch überwiegt die Empörung darüber, dass sie sich solchen Gedankengängen hingegeben haben, bei weitem.
Warum bei Verschwörungstheorien die rote Linie überschritten ist
Vielleicht erstmal kurz, was überhaupt Verschwörungstheorien sind: Nach der Standarddefinition von Michael Butter, dem wohl renommiertesten Forscher zu diesem Thema, sind es wesentlich vier Elemente, die eine Verschwörungstheorie auszeichnen:
- Nichts geschieht durch Zufall
- Alles ist miteinander verbunden
- Nichts ist so, wie es scheint
- Die Ereignisse geschehen monokausal
Das heißt, hinter allem wird ein tieferer Sinn vermutet, eine geheime Gruppe, die Pläne schmiedet. Und es wird uns allen etwas vorgemacht. Die Filmreihe „Matrix“ hat dieses Grundprinzip gut auf den Punkt gebracht. Wenn ich impfskeptisch bin, ist das keine Verschwörungstheorie. Wenn ich der Meinung bin, die Regierung will mich mittels Impfung chippen, dann schon. Wenn ich die Zahlen des RKI, des Johns Hopkins Institutes oder der Tagesschau nicht glaube, ist das meine Meinung, aber keine Verschwörungstheorie. Wenn ich aber glaube, dass diese Zahlen genutzt werden, um uns in die Diktatur zu führen, dann schon. Wenn ich denke, dass Corona wie eine Grippe ist, so ist auch das nur eine Meinung. Wenn ich meine, dass es Corona gar nicht gibt, dann ist auch das erstmal eine, wenn auch sehr krude, Meinung. Wenn ich aber der Meinung bin, dass es Corona gar nicht gibt und uns das alles nur von den Medien, den Mächtigen oder der Regierung vorgegaukelt wird, auch dann bin ich mitten im Verschwörungsdenken.
Doch warum ist das für mich persönlich so schlimm? Nicht, weil es unbewiesener Schwachsinn ist. Sondern weil es erstens eine Abkehr von Logik, Aufklärung und Rationalität ist. Vor allem aber, weil es für viele handlungsleitend, in der Konsequenz gefährlich, zutiefst unempathisch und egoistisch ist. Es ist das Gegenteil von Verständigung, Solidarität und Rücksichtnahme. Und genau deshalb nicht nur eine intellektuelle Zumutung, sondern auch charakterlich beschissen. Ich finde kein anderes Wort dafür.
Als überzeugter Demokrat und linksliberaler Grüner finde ich Meinungsfreiheit unglaublich wichtig. Und ich finde es wirklich gut, dass man noch den größten Bullshit glauben und öffentlich sagen kann (auch wenn letzteres oft mit Fremdscham einhergeht). Wenn Menschen der Meinung sind, dass die Erde in Wahrheit flach ist oder Politikerinnen und Politiker in Wahrheit Reptiloiden sind: go for it. Das Problem ist, dass es bei den Gedanken nicht bleibt. Die Masken- und Maßnahmenverweigerer tun dies häufig aus ideologischen Gründen, weil sie Corona für inexistent oder ungefährlich oder eben eine Verschwörung halten. Die Attentäter von Halle, Hanau oder Kassel: allesamt Verschwörungstheoretiker. Anders Breivik: Verschwörungstheoretiker. Die Nazis: Verschwörungstheoretiker, welche an die Existenz einer jüdischen Weltverschwörung oder der „Protokolle der Weisen von Zion“ glaubten. Und genau das ist der Punkt: Verschwörungstheorien haben ein starkes Potenzial, zum Handeln zu führen, und zwar zu sehr destruktivem, gefährlichem Handeln. Es gilt jedoch der alte Grundsatz des Liberalismus: Die Freiheit des einen endet dort, wie die Freiheit des anderen eingeschränkt wird. Und die wird dann massiv eingeschränkt, wann er oder sie an Gesundheit oder gar am Leben bedroht wird, ohne dies zu wollen.
Und einfach mal ganz konkret: wenn ich derzeit im Zug jemandem gegenübersitze, der meint, dass es Corona nicht gibt, aber ne Maske aufhat, soll die Person das gern denken. Aber wenn diese Haltung dieser Person dazu führt, dass sie keine Maske aufhat, dann ist das für mich potenziell gefährlich und für manche Menschen nachweislich tödlich. Das heißt, die Verschwörungstheorie ist kausal dafür verantwortlich, dass Menschen Schaden zugefügt wird oder dies zumindest billigend in Kauf genommen wird. Anderen aber intentional Schaden zuzufügen oder dies in Kauf zu nehmen, ist für mich persönlich aber ethisch vollkommen inakzeptabel, und damit die eben rote Linie bzw. der Rubikon überschritten.
Der eklatante Empathiemangel
Was mich an alledem immer wieder unfassbar macht, ist der Mangel an Empathie. Dass es anscheinend vielen Menschen immer stärker egal ist, was ihr Handeln oder Nichthandeln bei anderen bewirkt bzw. für diese bedeutet. Äußerungen wie „naja, das ist halt beschleunigte natürliche Auslese“, „Es sterben doch eh nur die Alten daran“, oder auch schlicht „mir doch egal“ haben alle eines gemeinsam: Es zeigt, dass den Leuten die Folgen ihres Handelns für andere Menschen einfach egal sind.
Vor allem dieser Satz: „es sterben doch eh nur die Alten daran“ stößt mir bitter auf. Haben „die Alten“ denn kein Recht zu leben? Eigentlich haben wir uns in Deutschland nach dem Zivilisationsbruch des Faschismus darauf geeinigt, dass Leben weder qualifizierbar noch quantifizierbar ist. Genau das ist der Kern des Satzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, unserem zu Recht obersten Verfassungsrang. Wenn aber tatsächlich die Würde eines Menschen unantastbar ist, dann ist es egal, wie alt oder sie ist. Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Leben und gesellschaftliche Teilhabe.
Diese Empathielosigkeit hat ja auch eine zweite Seite: einen Egoismus, der sprachlos macht. „Ich lasse mir keinen Maulkorb verpassen“: gern, aber genau deine Weigerung kann dazu führen, dass andere Menschen schweres Leid erfahren. „Die Maske sieht nach mehreren Stunden tragen eklig aus“: bestimmt, aber dann kann man sie waschen. Auf der Intensivstation in der Luft zu hängen und jede Sekunde das Gefühl zu haben, zu ersticken, ist viel schlimmer.
Genau deshalb zeigt die Coronapandemie auch die Grenzen des Anspruches auf Selbstverwirklichung auf. Wenn alle sich selbst verwirklichen wollen und sich niemand an die Regeln hält, kann sich am Ende keiner mehr verwirklichen, weil wir im endlosen Lockdown sind.
Tatsächlich bin ich persönlich zutiefst davon überzeugt, dass die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien ein Preis dafür sind, dass wir als Gesellschaft insgesamt immer individualistischer und egoistischer geworden sind. Denn nur bei hinreichendem Egoismus kann ich für mich die Pandemie gedanklich auf „ich muss ne Maske tragen und mich einschränken“ begrenzen und die Folgen für andere schlicht ausblenden. Der Soziologe Andreas Reckwitz schrieb, dass wir zunehmend eine „Gesellschaft der Singularitäten“ leben, also eine Gesellschaft derer, die sich für einzigartig halten. Und wenn ich mich nicht an die Regeln halte, dann bin ich ja einzigartig, was Besonderes. Ebenso, wenn ich der Meinung bin, die tiefere Wahrheit von Corona aufgrund von ein paar Youtube-Videos verstanden zu haben, während die anderen alle dumme Schlafschafe sind. So ist nämlich das Denken der Verschwörungsanhänger.
Was ich mir jedoch bei dieser Empathielosigkeit immer wieder vor Augen führe: Vor gerade einmal drei Generationen haben unsere Vorfahren ohne mit der Wimper zu zucken Menschen abgeknallt, weil sie Franzosen, Russen, Briten etc. waren. Manche haben auch Menschen vergast, weil wie Jüdinnen und Juden waren.
Die Decke der Zivilisation ist eben dünn, das zeigt sich gerade sehr. Und genau in der Frage der Empathie ist die Corona-Pandemie eben auch eine individuelle charakterliche Reifeprüfung, die leider nicht jede und jeder besteht.
Das Überlegenheits-Schwachsinns-Paradox
Und hier kommt der nächste frappierende Punkt. Aus psychologischer Perspektive gibt es tatsächlich leider gute Gründe, an Verschwörungstheorien zu glauben. Sie reduzieren die Komplexität, denn irgendwer ist einfach Schuld und zieht im Geheimen die Fäden. Damit wird irgendwem ein Interesse an Corona unterstellt, was dann dem an sich sinnlosen Pandemiegeschehen ein Gefühl von Sinn und Kohärenz verleiht. Vor allem aber: sie geben einem das Gefühl von Überlegenheit, weil man eine tiefere Wahrheit verstanden hat, die die anderen (=die „Schlafschafe“) ja nicht bzw. noch nicht verstanden haben. Weil man es selbst verstanden hat, die anderen aber nicht, ist man diesen gefühlt geistig überlegen.
Der Witz daran ist jedoch: durch den Glauben an voraufklärerischen Schwachsinn fühlen sich Menschen anderen intellektuell überlegen! Es wird dann fleißig der Bestätigungsfehler aktiviert und nur die Quellen einbezogen, die ins eigene Weltbild passen (Bhakdi und Co), und dann fleißig erzählt, ja teils missioniert, insbesondere in den sozialen Netzwerken.
Meine persönliche Erfahrung mit allen Querdenkerinnen und Querdenkern ist jedoch: sobald man mal fragend nachbohrt, fallen sie in sich zusammen. Genau dieses Phänomen aber, sich aufgrund inhaltlichen Schwachsinns dennoch anderen überlegen zu fühlen, das nenne ich das Überlegenheits-Schwachsinns-Paradox.
Ein Beispiel: Ein Querdenker schickte mir einen Artikel, laut dem wir in Deutschland trotz Corona keine Übersterblichkeit hatten. Ich fragte dann einfach mal, welchen Signifikanztest er für eine Zeitreihenanalyse denn vorschlagen würde, bzw. welche in seiner Quelle verwendet wurde. Und ob er sich bewusst ist, dass man, um diese These seriös beantworten zu können, ein Land bräuchte, das keine Maßnahmen hatte (oder wenig). Denn ob Corona wirklich Übersterblichkeit verursacht, wissen wir doch nur, wenn wir nix dagegen unternehmen. Es fehlt quasi die Kontrollgruppe Auf diese beiden Einwände kam: nix.
Und genau das hat sich verändert zu früher. Da hätte es auf einen guten Einwand vielleicht noch ein „hast Recht“ gegeben. Jetzt aber ist da nur Schweigen. Weil das Gefühl der eigenen geistigen Überlegenheit dann wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Deshalb können immer weniger Menschen souverän zugeben, dass sie im Unrecht sind oder der/die andere ein gutes Argument hat.
Die sich daraus ergebende Frage ist jedoch: warum brauchen immer mehr Menschen dieses Gefühl der Überlegenheit, welches sich auch in der hasserfüllten und abwertenden Sprache des Netzes manifestiert? Meine vorläufige Antwort ist: es schlummert als Bedürfnis in unterschiedlich starker Ausprägung als Machtmotiv eh in uns, aber durch die Digitalisierung haben wir immer mehr Vergleichsmöglichkeiten, die nicht selten zu unseren Ungunsten ausfallen, und immer weniger Hemmungen. Wir fühlen uns durch digitale soziale Vergleiche oft unterlegen, und müssen dies dann kompensieren: Mittels Selbstaufwertung durch Fremdabwertung. Tatsächlich halte ich sowohl die Verbreitung von Hassreden als auch die zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien primär für soziale Kollateralschäden der Digitalisierung.
Genau dieses aber, trotz der wirklich gedanklich schwierigen Situation und der Sinnlosigkeit sich nicht in den geistigen Morast der Verschwörungstheorien zu flüchten, ist die intellektuelle Reifeprüfung der Corona-Pandemie.
Die Aufklärung ist nicht selbstverständlich.
Was sich bei alledem immer wieder zeigt: es ist nicht so, dass wir als Gesellschaft zwangsläufig immer rationaler und aufgeklärter werden. Der alte Gedanke von Theodor Adorno und Max Horkheimer aus ihrem Buch „Die Dialektik der Aufklärung“, in dem sie aufgeführt haben, dass eine vollends rationalisierte Gesellschaft neue Mythen produzieren wird, ist aktueller denn je. Und in der Tat haben wir jetzt die Situation, dass oft nicht mehr über die Interpretation von Fakten gestritten wird, sondern über die Faktizität selbst. Dass nicht gefragt wird, ob wir über 80% Übersterblichkeit wie in Sachsen derzeit akzeptabel finden, sondern ob es diese tatsächlich gibt.
Das Ende dieser Entwicklung hin zur Postfaktizität und dem Verschwörungsdenken lässt sich anschaulich in den USA beobachten, wenn Büffelmänner und andere Verschwörungstheoretiker das Kapitol stürmen und die Mehrheit der republikanischen Wählerinnen und Wähler der Meinung sind, dass es einen Wahlbetrug gab, obwohl keines der Gerichte dies so sah. Selbst der Supreme Court mit einer konservativen Mehrheit und noch kurz vor der Wahl von Trump ernannten Mitgliedern hat die Einwände abgelehnt.
Nein, die Aufklärung ist nicht selbstverständlich, und sie ist keine Einbahnstraße. Aber sie ist wichtig, denn sie bedeutet gesellschaftlichen, politischen und moralischen Fortschritt. Genau deswegen: Es tut mir sehr leid um die Personen, die ich an die Verschwörungstheorien verloren habe. Aber antiaufklärerisches Denken ist inakzeptabel. Für mich persönlich steht Erkenntnis und Wahrheit über Sympathie und selbst über Freundschaft. Auch wenn das hart ist.