Durch die Coronakrise wird die beschleunigte Gesellschaft zum Innehalten gezwungen und die ohnehin prekäre Solidarität auf eine harte Probe gestellt. Die Gesellschaft wird sich schon deshalb verändern, weil Gesellschaftlichkeit im eigentlichen Sinne, nämlich die Zusammenkunft unterschiedlicher Menschen, strukturell auf unabsehbare Zeit unmöglich sein wird. Die Gesellschaft selbst wird nach dieser Krise wieder nationaler gedacht und verfasst werden, und die Nachbarschaft eine ganz neue Bedeutung und einen anderen Stellenwert haben. Soziale Unterschiede werden sich in der Krise reduzieren, aber danach wieder verschärfen, weshalb die zentrale Aufgabe ist, die entstehende organische Solidarität zu bewahren.
Die Coronakrise als Herausforderung für Gesellschaftlichkeit an sich
Eine Gesellschaft ist wesentlich durch geteilte Normen und Werte (Haidt: 2012), Mitgliedschaften zud Zugehörigkeit (Walzer: 2006), gegenseitige Kommunikation (Luhmann: 1994) und gemeinsames Handeln (Rousseau: 2010) geprägt. All diese Dinge haben bis jetzt wesentlich in Gesellschaft, das heißt realen physischen Versammlungen stattgefunden. Ob Wahlen, Demonstrationen, Feiern, Karneval, Parlamentarismus, Festivals oder viele andere Formate: Gesellschaft wurde dort konkret, wo Menschen sich physisch versammelt haben. Dies wiederum ist jetzt jedoch, im Kontext der Pandemie, temporär nicht oder nur höchst eingeschränkt möglich, was für jede Gesellschaft eine Bedrohung voraussetzt. Denn Gesellschaftlichkeit ist Voraussetzung einer Gesellschaft, ebenso ein gemeinsames Verbundenheitsgefühl (Durkheim: 1977) und eine Akzeptanz von bestimmten Handlungen und Entscheidungen (Boltanski/Thèvenot: 2007). Alle drei Grundvoraussetzungen sind jetzt, in Zeiten der Coronakrise, immer weniger gegeben, weshalb das Zusammengehörigkeitsgefühl schwinden kann und dann Menschen immer stärker egoistisch und vor allem egozentrisch handeln (vgl. Kock/Kutzner: 2018). Ein beredtes Beispiel hierfür sind die sprunghaft angestiegenen Waffenverkäufe in den USA, aber auch der Diebstahl von Atemschutzmasken und Desinfektionsmitteln aus Krankenhäusern.
Vorübergehende Umkehrung vorheriger gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen innerhalb der Coronakrise
Eine Gesellschaft ist grundsätzlich immer im Wandel begriffen. Die letzten Jahrzehnte haben jedoch eine deutliche Beschleunigung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse hervorgebracht (Rosa: 2012). Fast all diese Veränderungen werden sich jetzt jedoch, im Kontext der Krise, verändern und teilweise umkehren, und zwar umso stärker, je länger die Krise andauert.
Unsere Gesellschaft ist insbesondere im Laufe des 20. Jahrhunderts immer individualistischer geworden, insbesondere in westlichen Kulturen (Rosa: 2005). Diese Individualisierung, welche eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung darstellt, hat viele Ursachen. Ganz wesentlich ist hierbei allerdings das Streben nach Selbstverwirklichung (Mutz/Kämpfer: 2013). Diese Idee, die wesentlich von Abraham Maslow propagiert wurde und die an der Spitze seiner berühmten Bedürfnispyramide steht, hieß und heißt ja, dass man sich erst einmal auf sich selbst und die eigenen Wünsche und Bedürfnisse besinnen soll. Man muss sich selbst kennen, um sich selbst verwirklichen zu können. Und der Imperativ der Selbstverwirklichung heißt, dass die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse grundsätzlich als legitim angesehen wird. In individualistisch verfassten, modernen Gesellschaften ist dies so. In vormodernen Gesellschaften ging es jedoch viel stärker darum, Erwartungen zu erfüllen, Rollen auszufüllen und Traditionen zu achten (Habermas 1973:32). Überspitzt formuliert: Weder innerhalb des preußischen Obrigkeitsstaates noch auf dem Land in Bayern war Selbstverwirklichung überhaupt vorgesehen. Und für viele ältere Menschen ist auch heute noch die Pflichterfüllung viel relevanter als irgendeine Form der Selbstverwirklichung (Inglehart: 1989). Nur: In der Coronakrise sind zentrale Aspekte der Selbstverwirklichung schlicht unmöglich und verboten, denn sehr häufig ist Selbstverwirklichung nur gemeinsam mit anderen möglich.
Die Gesellschaft ist auch, jedenfalls zu immer größeren Anteilen, internationaler und sogar globaler geworden. Gerade innerhalb Europas hat tatsächlich eine immer stärkere Integration stattgefunden (Habermas: 2011), bei der Billigflieger und das Erasmus-Bildungsprogramm eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die Idee einer Weltgesellschaft, einer tatsächlichen Kosmopolis (Ash: 2016), sie hat insbesondere nach dem Zusammenbruch des Ostblocks (Priestland: 2009) an Aktualität und lebensweltlicher Relevanz gewonnen. Auch politisch haben globale Organisationen, hat der Multilateralismus als ordnendes Prinzip deutlich an Bedeutung hinzugewonnen (Heyne: 2015), was auch die Gesellschaften zunehmend transnationalisiert hat. Dieser Prozess der gesellschaftlichen Globalisierung hat mit der Wahl Donald Trumps und anderer autoritärer Herrscher einen ersten Einbruch erlitten (Browning: 2018; Geiselberger: 2017). Jetzt aber, in Zeiten der Coronakrise, werden wir eine gesellschaftliche Deglobalisierung ersten Ranges erleben. Die Grenzschließungen, Einreise- und Ausreiseverbote sowie die Fokussierung auf die jeweils eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger wird dafür sorgen, dass die gelebte, praktizierte, alltägliche Diversität weniger werden wird (vgl. Kühlmann: 2013). An dieser durch die Coronakrise bedingten Renationalisierung der Gesellschaft werden nicht wenige festhalten wollen (Koppetsch: 2019). Natürlich werden jetzt Videokonferenzen, virtuelle Teams und Zusammenarbeit auch nach wie vor international wie global möglich sein. Für die gesellschaftliche Integration ist jedoch Alltag und regelmäßige Interaktion unabdingbar.
Unsere Gesellschaften sind jedoch nicht nur individualistischer und internationaler geworden, sondern sie sind zunehmend zu Gesellschaften der Singularitäten geworden (Reckwitz: 2018). Das heißt, Menschen wollen zunehmend nicht mehr nur individuell sein, sondern besonders, einzigartig. Um dies tun zu können, ist es wichtig, sich von anderen zu unterscheiden. Das Bedürfnis danach, sich von anderen abzuheben, nach Distinktion innerhalb einer Gesellschaft ist gestiegen (vgl. Koppetsch: 2015; Bourdieu: 2007). In der Coronakrise ist es jedoch sehr schwer, sich als einzigartig zu empfinden und von anderen zu unterscheiden, denn es sitzen tatsächlich alle im gleichen Boot bzw. zu Hause. Die Zurschaustellung des eigenen Lebens wie ein Kunstwerk mittels der sozialen Netzwerke, wie es gerade in den letzten Jahren geschah (Reckwitz: 2018; Schroer: 2014), wird kaum noch möglich sein, da die Unterschiede daheim nicht so groß sind wie außerhalb. Genauso zu sein wie andere, sich nicht zu unterscheiden und einfach ganz normal betroffen zu sein von der Krise, wird für viele Menschen eine interessante, für manche auch durchaus verstörende Erfahrung sein, da sie mit ihrem bisherigen Selbstbild, etwas Besonderes zu sein, kontrastiert.Zusammengefasst wird die Gesellschaft zunächst weniger individualistisch, weniger global und Menschen werden sich vorübergehend als gleich betroffen und nicht als etwas Besonderes empfinden. Diese Erfahrung wird insbesondere für die zunehmende Zahl Narzisstinnen und Narzissten schmerzhaft (Wardetzki: 2018)
Die Coronakrise und die soziale Ungleichheit
In der Krise gibt es insgesamt betrachtet enorme Verluste für alle. Diese werden sich jedoch unterschiedlich verteilen. Durch die multiplen Börsencrashs seit Beginn der Coronakrise wird der globale Reichtum zwar weniger, aber durchaus etwas gleicher verteilt. Denn es sind durchaus Rettungsmaßnahmen wie das Kurzarbeitergeld angedacht und sinnvoll. Börsenverluste werden aber sicher nicht entschädigt werden, schon allein weil dies nicht darstellbar ist.
Jedoch wird die Krise nach Beendigung die soziale Ungleichheit noch verstärken. Denn Menschen und Familien, die bereits vorher über entsprechende finanzielle Rücklagen verfügten werden diese Krise unbeschadeter überstehen, insbesondere auch psychisch, da sie keine Existenznöte verspüren werden, was insbesondere psychische Belastungen senkt. Menschen, die über eine entsprechende soziale Herkunft, ein umfassendes kulturelles Kapital (also Wissen und Bildungsabschlüsse) verfügen (vgl. Salikutlic/Heyne: 2014; Bourdieu: 2007), werden auch hier deutlich besser durch die Krise kommen. Sollten sie arbeitslos werden, kommen sie leichter in neue Jobs. Vor allem aber geben Sie ihren Kindern mit hoher Wahrscheinlichkeit in dieser Phase des Homeschooling mehr Wissen mit. Für das Ideal der Chancengleichheit in Bildungswesen ist die Coronakrise fatal, da die Anregungsbedingungen der Elternhäuser für ihre Kinder unterschiedlich verteilt sind, und Bildungsunterschiede sich dann zuverlässig in soziale Unterschiede übersetzen.
Entscheidend wird sein, ob die getroffenen Maßnahmen innerhalb der Krise als gerecht erlebt werden. Denn wir Menschen sind nun einmal in hohem Maße Vergleichswesen (Grasseni/Origo: 2018; Haidt: 2012). Insbesondere dann, wenn die von der Krise am stärksten gebeutelten Personengruppen (wie die Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe, die kleinen Selbständigen) am meisten profitieren, besteht die Chance, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt bewahrt bleibt (Walzer: 2006; Rawls: 1979). Es besteht jedoch eine viel größere Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Entscheiden unter Unsicherheit zu als ungerecht empfundenen Entscheidungen führt, was dann den sozialen Zusammenhalt schwächt und bis zu einem Zustand der Gesetzlosigkeit, der Anomie führen kann (Durkheim: 1977). Vor allem dadurch, dass das Eingesperrtsein gegen den Grundwert der persönlichen Freiheit verstößt (Haidt: 2012) und damit Reaktanz auslöst, können in Kombination mit gefühlter Ungerechtigkeit und materieller Verelendung oder (erwartbaren) Versorgungsengpässen sogar Aufstände und kollektive Gewaltakte die Folge der Coronakrise sein. Diese gilt es durch kluge Kommunikation, einen handlungsfähigen Staat und die Aufrechterhaltung von Gesellschaft auch ohne konkrete Geselligkeit und Gesellschaftlichkeit zu verhindern.
Abgeleitete Maßnahmen:
- Es muss deutlich werden, dass alle zurückstecken müssen, um das Gerechtigkeitsempfinden und damit die Solidarität zu wahren
- Es sollte auch kommunikativ deutlich werden, dass der Staat sich besonders um diejenigen in der Gesellschaft kümmert, die am stärksten von der Coronakrise getroffen sind
- Einschränkungen der Reisefreiheit sollten nur so lange aufrechterhalten bleiben wie es unbedingt notwendig ist
- Durch gemeinsame, in Gesellschaft vorgetragene Erzählungen, wie Menschen die Krise gemeistert haben, kann das Zusammengehörigkeitsgefühl, die organische Solidarität (Durkheim: 1977) gestärkt werden
- Nachbarschaftsnetzwerke, Quartiersmanagement und Begegnungszentren sollten gestärkt und ausgebaut werden, um Solidarität zu institutionalisieren, auch über die Krise hinaus.
- Sorgentelefone sollten zunehmend als Videokonferenzen organisiert werden, um zumindest etwas mehr menschliche Interaktion zu haben
- Nach der Krise sollte es besondere Förderprogramme für Kinder aus bildungsfernen Familien geben (affirmative action), um die entstandenen Bildungsunterschiede nicht zu groß werden zu lassen
- Die Zeitgemäßheit des Anspruches auf Singularität sollten alle kritisch reflektieren.
Literatur:
Ash, Timothy Garton (2016). Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt. München: Hanser.
Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent (2007). Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft. Hamburg: Hamburger Verlags Edition.
Bourdieu, Pierre (2007). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Browning, Christopher (2018). Weimar in Washington: Die Totengräber der Demokratie. Blätter für deutsche und internationale Politik, 11, S. 41-50.
Durkheim, Emile (1977). Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main: Campus.
Geiselberger, Heinrich (2017). Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Edition Suhrkamp.
Grasseni, Mara/Origo, Federica (2018). Competing for Happiness: Attitudes to Competition, Positional Concerns and Wellbeing. Journal of Happiness Studies, 7, 1981-2008.
Habermas, Jürgen (2011). Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Habermas, Jürgen (1973). Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Haidt, Jonathan (2012). The righteous mind. Why good people are divided by politics and religion. New York: Basic Books.
Heyne, Lea (2015). Globalisierung und Demokratie: Führt Denationalisierung zu einem Verlust an Demokratiequalität? In Merkel, Wolfgang (Hg.). Demokratie und Krise. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 277-306.
Inglehart, Ronald (1989). Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen Welt. Frankfurt am Main: Campus.
Kock, Klaus/Kutzner, Edelgard (2018). Arbeit als kollegiales Handeln – Praktiken von Solidarität und Konkurrenz am Arbeitsplatz. Industrielle Beziehungen, 4, S. 446-468.
Koppetsch, Cornelia (2019). Die Gesellschaft des Zorns. Bielefeld: transcript.
Koppetsch, Cornelia (2015). Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte. Frankfurt am Main: Campus.
Kühlmann, Torsten (2013). Internationaler Personaleinsatz. In Schuler, Heinz/Kanning, Uwe-Peter (Hg.). Lehrbuch der Personalpsychologie. Göttingen: Hogrefe. S. 847-888.
Luhmann, Niklas (1994). Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Mutz, Michael/Kämpfer, Sylvia (2013). Emotionen und Lebenszufriedenheit in der „Erlebnisgesellschaft“. Eine vergleichende Analyse von 23 europäischen Ländern im Anschluss an die Gesellschaftsdiagnose von Gerhard Schulze. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 64, S. 253-274.
Priestland, David (2009). Weltgeschichte des Kommunismus. Von der Französischen Revolution bis Heute. München: Siedler.
Rawls, John (1979). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Reckwitz, Andreas (2018). Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Rosa, Hartmut (2012). Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Rosa, Hartmut (2005). Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Wissenschaft.
Rousseau, Jean-Jacques (2010). Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechtes. Stuttgart: Reclam.
Salikutluc, Zerrin/Heyne, Stefanie (2014). Wer ist tatsächlich benachteiligt? Die Wirkung traditioneller Geschlechterrollen auf schulische Leistungen und elterliche Aspirationen in deutschen und türkischen Familien. Zeitschrift für Soziologie, 4, S. 421-440.
Schroer, Markus (2014). Soziologie der Aufmerksamkeit. Grundlegende Überlegungen zu einem Theorieprogramm: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 66, S. 193-218.
Walzer, Michael (2006). Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt am Main: Campus.
Wardetzki, Bärbel (2018). Narzissmus, Verführung und Macht. München: Goldmann.