Einleitung: Die historische Spaltung der Ökonomie von der Moral
Angesichts der heutigen, sich modern mathematisch gerierenden Wirtschaftswissenschaft wird gern vergessen, dass es ökonomisches Denken bereits seit der Antike gibt. Bereits der mythische Gilgamesch-Epos, welcher den Imperativ der Steigerung der Effizienz zulasten menschlicher Bedürfnisse behandelte (Sedlacek 2012: 36), gilt als erste ökonomische Parabel überhaupt.
Bereits Aristoteles, welcher sich viele Gedanken um die oikonomia, als ursprünglich die Kunst der Haushaltsführung (griech. Oikos = Haus) machte, unterschied zwei verschiedene Arten des Wirtschaftens. Zum einen die nachhaltige Bewirtschaftung, die wesentlich der Bedürfniserfüllung dient, eben die Oikonomia. Zum anderen die ungezügelte Anhäufung von Reichtümern (Chremata), die er für unmoralisch hielt (vgl. Marx: 1977): die Chrematistik. So heißt es in seiner Politeia:
„Denn diese Geldmittelbeschaffung ist nicht Aufgabe der Kunst der Hausverwaltung. Demnach scheint es insofern bei jedem Reichtum eine Grenze geben zu müssen; angesichts der Tatsachen sehen wir aber, daß das Gegenteil eintritt. Alle Geschäftemacher wollen nämlich ins Unbegrenzte hinein ihr Geld vermehren.“ (Aristoteles 1989: 1257b)
Für Aristoteles stehen Ungerechtigkeit und Unersättlichkeit in einem engen Zusammenhang (Aristoteles, 2004). Da er aber erkannt hatte, dass die Gerechtigkeit für die Stabilität und das Gedeihen eines Gemeinwesens, eine Polis (vgl. Boltanski/Thèvenot: 2007) relevant ist, lehnte er die Chrematistik, welche sich heute als Finanzialisierung des Kapitalismus äußert (Kocka/Merkel: 2015), ab
Gern wird heute vergessen, dass Adam Smith, der Verfasser des berühmten Werkes „The Wealth of Nations“, welcher durchaus als Begründer der Wirtschaftswissenschaft gelten kann, auch ein bedeutendes ethisches Werk geschrieben hat, nämlich seine „Theory of Moral Sentiments“ (Boltanski/Thèvenot 2007:80). Denn für ihn war Ökonomie und Ethik noch untrennbar, und das Theorem der unsichtbaren Hand, für welches Adam Smith noch heute von der Mainstream-Ökonomie gefeiert wird (Wöhe 2010: 54), war für den Autor des Wohlstands der Nationen nur eines unter vielen.Hieran zeigt sich, dass es einen ursprünglichen Nexus von Ökonomie und Moralphilosophie gab, ja dass letztlich die Ökonomie einmal eine Spielart der Ethik war (Sandel: 2015).
Exemplarisch für das Verhältnis von Ökonomie und Moral stand und steht der Werturteilsstreit, also die Frage, inwieweit Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wertend sind, bzw. es sein sollen. Der tschechische Ökonom Tomas Sedlacek schreibt hierzu: „Wertfrei zu sein ist übrigens schon ein Wert an sich, zumindest für die Ökonomen sogar ein großer. Es ist paradox, dass ein Gebiet, das sich vorwiegend mit Werten beschäftigt, wertfrei sein will (Sedlacek 2012: 19). Das Grundproblem ist nämlich, dass die Ökonomie in immer mehr Bereiche vordringt, die von anderen Prinzipien beherrscht sind als jenen des Marktes. Folglich muss sie sich auch mit normativen Fragen auseinandersetzen (Sandel: 2015).
Insgesamt also zeigt sich, dass in einer wirklich historischen Betrachtung es keinesfalls die Spaltung von Moral und Ökonomik geben muss, wie es sie jetzt gibt. Und dass Wirtschaftswissenschaften auch ganz anders sein können, nämlich deutlich weniger formalisiert und mathematisiert, also sie es heute sind (Sedlacek: 2012).
Die grundlegende Notwendigkeit kritischer Wissenschaften
Dies führt direkt zum wohl wichtigsten Topos Kritischer Wissenschaften, nämlich der Kritik der Naturalisierung bestehender Verhältnisse (Jaeggi 2014: 28). Das bedeutet, dass das Seiende eben nicht als gegeben hingenommen wird, sondern als kontingenter und damit kritisierbarer Entwicklungspfad begriffen wird. Nur dann werden auch alternative Entwicklungspfade, und dementsprechend auch Alternativen zum wissenschaftlichen Mainstream sichtbar (Marcuse: 2014).
Kritische Wissenschaften befassen sich mit den Grundlagen einer Wissenschaft, mit den häufig nicht reflektierten Prämissen (vgl. Kopperschmidt: 2000), von denen sie ausgeht und mit denen sie operiert. Sie zeigen auf, dass eben nicht alles grundlegend in Ordnung ist oder so ist, wie es sein sollte (Geuss 2013: 172). Daher sind sie häufig auch durch eine radikale Historizität geprägt, denn sie wollen aufzeigen, wie bestimmte Verhältnisse geschichtlich entstanden sind (vgl. Foucault: 1994; Foucault: 1979), und wie sie dementsprechend auch veränderbar sind.
Konkret sind Kritische Wissenschaften Teil einer kritischen Gesellschaftstheorie (Wiggershaus: 2010). Es geht darum, die Nichtneutralität wissenschaftlicher Fragestellungen, Ergebnisse und Prozeduren aufzuzeigen (Holzkamp: 1985). Denn natürlich findet stets eine Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse statt,immer mehr auch in Form einer kapitalistischen Inwertsetzung (vgl. Marx: 1973), was sich schon an der gestiegenen Bedeutung von Drittmitteln zeigt. Welche Lehrstühle mit welchen Inhalten besonders gefördert werden, ist immer auch eine Frage gesellschaftlicher Prioritätensetzung.
Die besondere Bedeutung Kritischer Wirtschaftswissenschaften ergibt sich aus der Bedeutung, welche Wirtschaftswissenschaften heute einnehmen. Exemplifiziert an Bill Clintons Diktum „It´ s the Economy, stupid“, zeigt sich, dass die Wirtschaft einen immer größeren gesellschaftlichen Stellenwert bekommt (Sandel: 2014; Habermas: 1973), und mit ihr die Wirtschaftswissenschaften. Manchmal wurden Ökonomen sogar irrigerweise in den Rang von Propheten gehoben (Hobsbawn: 1998).
Gerade auf die Politik haben Ökonominnen und Ökonomen einen immer größeren Stellenwert. Ein frappantes Beispiel hierfür ist die Theorie von Claire Reinhard und Kenneth Rogoff, nach der bei mehr als 90% Staatsverschuldung die Schuldenfalle zuschnappe, und kaum noch Wachstum möglich sei. Es stellte sich heraus, dass deren Rechenmodell falsch war (Krugman: 2013; Lorey: 2013). Die Konsequenz, die aus der breiten Affirmation der (falschen) Rechnungen von Reinhard und Rogoff gezogen wurde, war die verordnete Austeritätspolitik, insbesondere für südeuropäische Staaten, die nun endlich sparen sollten (Schui: 2012; Altvater: 2011), was deren ökonomische Situation meist nur noch verschärfte. Die Austeritätspolitik wurde als Sachzwang dargestellt, eine politische Debatte somit unterbunden. Genau hier aber liegt das Problem: Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen zu vermeintlich neutralen Ergebnissen, die dann reale Konsequenzen haben und viele politische Dilemmata entweder generieren (z.B. Unterwerfung unter die Gläubiger vs. Versuch einer eigenständigen Steuer- und Fiskalpolitik) oder sie einseitig beantworten (meist zulasten des Sparens, ungeachtet dessen moralischen und sozialen Kosten). Genau diese Effekte, welche die Ökonomik gern als exogen beschreibt, werden jedoch endogen verursacht. Genau das greift eine Kritische Ökonomik auf und kritisiert es.
Das Grundproblem der kapitalistischen Landnahme
Bereits Rosa Luxemburg analysierte, dass bei einem simultanen Bestehen kapitalistischer Strukturen und anderer Formen des Wirtschaftens (Genossenschaften, Kooperativen, Subsistenzökonomien) der Markt sich immer weiter auszubreiten versucht. Dies rührt daher, dass beständiges Wachstum vonnöten ist, welches nur durch Erweiterung der Marktgrenzen in bisher nicht konkurrenzförmig orientierte Bereiche geschehen kann (Luxemburg: 1899). Dieses Phänomen kann insgesamt als kapitalistische Landnahme bezeichnet werden (vgl. Bea/Haas 2009: 100; Dörre 2009: 41; Habermas 1973: 61). Das heißt, dass aus einer grundlegend kontingenten Situation, wo es die Wahl zwischen Kooperation und Konkurrenz in ihren verschiedenen Abstufungen gibt, ein systemischer Imperativ zum Konkurrenzzwang existiert, weil immer mehr Dinge der Verwertungslogik unterworfen werden (Marx: 1978; Marx/Engels: 1972). Dies geschieht bis hin zur Ebene des einzelnen Individuums, welches zum unternehmerischen Subjekt gemacht wird (Bröckling: 2007). Die häufig sinnvollere Form der gesellschaftlichen Kooperation wird damit meist völlig außer Acht gelassen (vgl. Mahnkopf: 2011). Hinzu kommt, dass der Kapitalismus selbst die besondere Fähigkeit, an ihn herangetragene Kritik zu inkorporieren, statt sich von ihr schwächen zu lassen (Boltanski/Chiapello: 2006).
Die Mainstream-Ökonomik, welche wesentlich von neoklassischen Modellen geprägt ist (Wöhe: 2010), geht wesentlich davon aus, dass Märkte sich im Gleichgewicht befinden, sofern sie nicht von außen gestört werden. Damit meinen sie insbesondere staatliche Interventionen. Innerhalb dieser Modelllogik verringert also alles, was nicht marktförmig ist, die Perfektibilität der Märkte. Dadurch aber findet eine ideologische Diskriminierung anderer Rechtfertigungen als jener des Marktes (vgl. Boltanski/Thèvenot: 2007) statt. Wenn dies aber der Fall ist, dann kann weder von der Neutralität noch von der Freiheit der Werturteile innerhalb der Mainstream-Ökonomik (kritisch: Sandel: 2015; Sedlacek: 2012; Habermas: 1973) ausgegangen werden. Da die Wirtschaftswissenschaft jedoch genau daran festhält, teilweise trotz der heftigen Erschütterungen ihrer Modelle und Annahmen durch die Weltwirtschaftskrise 2007ff (Roubini: 2011; Stiglitz: 2010), muss sie notwendig Kritik auf sich ziehen. Genau deshalb sind Kritische Wirtschaftswissenschaften aber so notwendig. Um die ausgeblendeten Implikationen des vermeintlich Neutralen hell zu beleuchten.
Der verheerende Siegeszug der Chicago Boys
Natürlich hat es in der Wirtschaftswissenschaft immer auch Veränderung und Kritik gegeben. Eine grundlegende Heterodoxie ist ebenfalls gegeben, da es stets mehrere ökonomische Schulen gibt, wie jene der Neoklassiker und die der (Neo-)Keynesianer und diverse Untergruppierugen. Diese gedankliche Vielfalt ist jedoch nicht ohne Grund.
1946 gründete sich die Mont-Pélerin-Gesellschaft, eine Vereinigung zur Stärkung liberaler und marktkonformer Ideen, welcher die Gesellschaften des Westens intellektuell und ideologisch gegen kapitalistische Widersacher im Allgemeinen und sozialistische Ideen im Speziellen wappnen sollte. Schon hiermit wurde eine erste institutionalisierte Grundlage gelegt, um neoklassischen Ideen zur Hegemonie im ökonomischen und wirtschaftswissenschaftlichen Denken zu verhelfen. Insbesondere Ideen Hayeks sollten, ungeachtet nationaler, soziologischer oder historischer Differenzen grundlegend universalisiert werden (Streeck: 2013a). Die Mainstream-Ökonomie hinterfragt dies nicht.
Anfang der 1970er kam es zu einer intellektuell bedeutsamen Koinzidenz: Auf der eine Seite hatten sich mit dem Ölschock und der aufkommenden Arbeitslosigkeit keynesianische Nachfrage- und Steuerungsmodelle diskreditiert (Crouch: 2011), auf der anderen Seite die Etablierung einer Denkschule, die insbesondere an der Universität Chicago aufkam und die Wirtschaftswissenschaften sowie die Welt als ganzes verändern sollte: der Neoliberalismus (Piketty: 2014; Streeck: 2013b).
Damit begannen wenigstens drei Dekaden des Neoliberalismus (Stiglitz: 2010), also der Imperativ der Privatisierung, Deregulierung, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen (Tullius/Wolf: 2016) und die intendierte Verschlankung des Staates (Vogel/Pfeuffer: 2016; Czerwick: 2007). Auf der ganzen Welt wurde in der Folge das Politikverständnis verändert. Staatseigentum, eine hohe Staatsquote, starke Gewerkschaften waren auf einmal unter dem Verdacht, anachronistisch zu sein. Der Sieg des neoliberalen Denkens war, insbesondere in den Neunziger Jahren, nahezu grenzenlos (Bourdieu: 2015; Brown: 2015). Neoliberale Politik wurde durchgesetzt, oft in einem engen Zusammenhang zu technokratischer Politik (Sandel 2015: 8). Exemplarisch hierfür kann sicherlich die Hartz-Kommission 2003 stehen, die eine neoliberale Sozial- und Arbeitsmarktpolitik als vermeintlichen Sachzwang darstellte (Clasen/Clegg: 2014; Dörre: 2013). In noch viel drastischerem Ausmaß zeigte sich die Koinzidenz von Neoliberalismus und Technokratie in den temporären Regierungen Italiens und Griechenlands, die als entpolitisierte Expertokratien auftraten, um die Austeritätspolitik zu exekutieren, mit allen späteren Verwerfungen.
Die Folgen des Neoliberalismus waren und sind drastisch. Die Schere der Einkommen zwischen Führungskräften und CEO´s auf der einen Seite und abhängig Beschäftigten auf der anderen Seite wuchs drastisch (Sandel 2013: 29). Durch internationale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) und weitere wurden Staaten zu immer mehr Deregulierung und Privatisierung faktisch gezwungen (Heyne: 2015). Die soziale Ungleichheit wächst immer weiter an (Wehler: 2013), und insbesondere diejenigen, die jetzt schon über Kapital verfügen, profitieren überproportional im Vergleich zu abhängig Beschäftigten (Piketty: 2014). Durch Privatisierungen und Sparvorgaben im Gesundheitswesen wird Gesundheit immer mehr zu einer Ware und zu einer sozialen Frage (Auffenberg/Krachler: 2017). Die Steuern, insbesondere für Besserverdienende, wurden immer weiter gesenkt (insbesondere Einkommens- und Vermögenssteuern), und dennoch hat die Quantität und Qualität der Steueroasen deutlich zugenommen (Zucman: 2014), wie allein die Existenz der Panama Papers sehr deutlich aufzeigte. Die Gewerkschaften wurden geschwächt, da der Neoliberalismus deren Legitimation massiv zu untergraben trachtete (vgl. Holst/Aust/Pernicka: 2008), mit allen Folgen für abhängig Beschäftigte wie zunehmende Tarifflucht, stagnierende oder gar sinkende Reallöhne für die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten und das beständige Führen von Abwehrkämpfen, um soziale Errungenschaften verteidigen zu können (Boltanski/Chiapello: 2006). Während der Neoliberalismus von der Mainstream-Ökonomie immer wieder theoretisch legitimiert und somit bestärkt wird, ist die Kritik dieser Denk- und Handlungslogiken eine der zentralen Aufgaben kritischer Wirtschaftswissenschaften. Hier kann allerdings der erkennbare Vormarsch der Ökonometrie ebenso hilfreich sein, denn viele neoliberale Politiken und Denkschemata wurden spätestens seit 2007 erheblich falsifiziert. Dennoch ist der Neoliberalismus nicht tot (Crouch: 2011), weshalb er beständig der Kritik bedarf.
Die Konsequenzen der Illusion vollkommener Märkte
Teil der Neoklassik ist die Vorstellung, dass Märkte tendenziell dazu neigen, in einem vollkommenen Gleichgewicht zu sein. In diesem besitzen alle Marktteilnehmenden vollständige Informationen. Lücken im Angebot oder der Nachfrage werden sofort ausgeglichen und alle Marktteilnehmenden sind grundlegend gleichberechtigt. Sofern all dies gegeben ist, soll sich der Markt in einem entsprechenden Gleichgewicht befinden.
Das wesentliche Problem ist: Der Kapitalismus ist nicht auf Gleichgewicht angelegt, und auch Märkte weisen grundsätzlich Ungleichgewichte auf (Luhmann 1994: 54). Ebenso sind Informationsasymmetrien zwischen Marktteilnehmern eher die Regel denn die Ausnahme. Der derzeitige Informationsasymmetrie bezüglich des Verbrauchs und Ausstoßes von Schadstoffen zwischen den Automobilkonzernen einerseits und den Käuferinnen und Käufern andererseits ist hierfür ein beredtes Beispiel. Vor allem aber gibt es massive Ungleichgewichte der Macht der einzelnen Marktteilnehmer (vgl. Sandel: 2015). Dies zeigt sich schon darin, dass deutsche Autobesitzer anders entschädigt werden als jene in den USA. Es zeigt sich aber auch am Beispiel von Zulieferern, die sich jedes Preisdiktat ihrer Hauptauftraggeber gefallen lassen müssen.
In der Philosophie würden vollkommene Märkte als ein interessantes, aber durch falsche Prämissen falsifiziertes Gedankenexperiment schnell begraben werden. In der Wirtschaftswissenschaften werden theoretische Hochhäuser auf dem absolut instabilen Prämissengrund der Theorie des vollkommenen Marktes gebaut. Und hierbei kommt es dann zwangsläufig auch zu falschen Schlußfolgerungen. Denn wenn es keine Ungleichgewichte gibt, dann braucht es natürlich auch keine Schutzmechanismen wie Mindestlöhne oder Maximalarbeitszeiten…
Das Festhalten an Modellen, Theorien oder Annahmen, die theoretisch, historisch oder ökonometrisch teils vielfach falsifiziert wurden, kann nur einen Schluss zulassen, nämlich den, dass genau dies ideologisch motiviert ist. Genau deshalb ist Kritische Wirtschaftswissenschaft nicht etwa per se ideologisch, sondern sie ist vielmehr Ideologiekritik (Sonderegger 2013: Jaeggi: 2013).
Der homo oeconomicus als homo horribilis
Eine weitere prominente Denkfigur des ökonomischen Mainstreams mit massivem ideologischen Gehalt (Zizek: 1989) und noch massiveren politisch-ökonomischen Implikationen ist die Figur des homo oeconomicus. Diese ökonomistische Anthropologie (vgl. Bourdieu: 2015) bezeichnet ein Menschenbild, das aus mehreren Modellannahmen besteht:
„1) Jedes Individuum strebt nach maximalem Eigennutz
2) Extrinsische Anreize sind Auslöser wirtschaftlichen Handelns
3) Vollständige Information zur Beurteilung aller Handlungsalternativen
4) Entscheidung nach dem Rationalprinzip“ (Wöhe 2010: 6).
Was hier erneut passiert: die Kontingenz menschlichen Handelns wird auf ein Grundprinzip heruntergebrochen, welches dann alternativlos ist, da es nur nach dem Eigennutz geht. Nicht umsonst war es der Thatcherismus als eine Spielart des Neoliberalismus, bei der sich die Denkfigur des homo oeconomicus mit dem berühmten Slogan „There is no alternative“, kurz TINA, verband (Mason: 2016; Offe: 2013).
Ebenso wird der Mensch auf extrinsische Anreize reduziert. Intrinsische Anreize wie Freude an der Tätigkeit (der berühmte Flow-Zustand; Rheinberg: 2002), Hilfsbereitschaft oder schlichtes Streben nach Etwas um seiner selbst willen (vgl. Aristoteles: 2016; Aristoteles: 2004) wird vollkommen ausgeblendet, obgleich dies doch häufig viel höher zu gewichten ist als menschliches Handeln aus extrinsischen Gründen wie Geld.
Klar wird also: Es braucht ein realistischeres Menschenbild, wie es zum Beispiel in der Verhaltensökonomik oder aus den geronnenen Erkenntnissen der Psychologie realisiert würde. Denn der Zustand, dass wir von einem einseitigen Menschenbild zu einseitigen Schlussfolgerungen kommen, die dann im Zuge einer self-fulfilling prophecy immer weiter Märkte und Egos enxpandieren lassen (Schirrmacher: 2013), muss endlich ein Ende haben.
Epilog
Wissenschaft bedeutet in ihrem Kern Kritik. Die Kritik stellt den Operationsmodus der Wissenschaft dar (Luhmann: 1992), und sie ist nicht erst seit der Aufklärung ein Motor des Fortschrittes dar (Butler 2013: 231). Wissenschaft ist der Versuch, sich mittels Einsicht und Kritik dem Seienden zu nähern. Dazu ist es unabdingbar, sich der eigenen Prämissen der Herangehensweise bewußt zu werden. Genau dies machen bürgerliche Wissenschaften eben nicht, sondern sie gehen davon aus, daß die Welt grundsätzlich in Ordnung sei (Geuss 2013: 172). Doch das ist sie eben nicht.
Die ideologische Schützenhilfe, welche die Mainstream-Ökonomie der neoliberalen Politik lieferte, kann in ihrer Wirkung kaum unterschätzt werden. Dennoch gibt sich die Wirtschaftswissenschaft wertneutral. Jedoch, und das wissen wir spätestens seit Robert Oppenheimer, dem Vater der Atombombe: Wissenschaft hat immer auch eine ethische Verantwortung. Diese zu hinterfragen, sich selbst zu reflektieren und die Wirtschaftswissenschaft in ihrer gesellschaftlichen Rolle zu verorten, sind die Aufgaben der Kritischen Ökonomik. Sie kann ihre Mutterdisziplin also nur bereichern.
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Moritz Kirchner