Bundestagswahl 2021: Eine präzedenzlose politische Konstellation
Diese Bundestagswahl findet in einer qualitativ mehrfach ganz anderen politischen Ausgangskonstellation statt als alle vorangegangenen Bundestagswahlen in der Geschichte der Bundesrepublik (von Lucke: 2019). Sie ist so offen wie nie, und gleichzeitig entscheidend für die weitere politische Weichenstellung sowohl des Landes als auch der Europäischen Union. Doch was unterscheidet diese Wahl von anderen?
Erstens scheint es gemäß der dauerhaften Umfragewerte so zu sein, dass das, was früher einmal Große Koalition genannt wurde, inzwischen nicht mehr in der Lage, mehr als die Hälfte des Elektorates auf sich zu vereinen (vgl. Brunkhorst: 2016), was in der Konsequenz bedeutet, dass sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die konkrete Regierungskonstellation verändern wird.
Zweitens hat die SPD erst ganz zum Ende des Wahlkampfes realistischerweise die Möglichkeit, den Kanzler zu stellen, während vorher die Krise der Sozialdemokratie (Sandel: 2021; Lux/Mau: 2018) evident war. Auf der anderen Seite haben erstmal Bündnis 90/Die Grünen die Möglichkeit, das Kanzlerinamt zu erobern, da sie dauerhaft über 20% liegen und ob ihrer strategischen Ausrichtung als Bündnispartei in verschiedenen Konstellationen Teil der Regierung sein können (vgl. Habeck: 2021; Olschanski: 2020, und nicht notwendig stärkste Kraft werden müssen, um die Kanzlerin zu stellen. Die Besonderheit besteht allerdings auch darin, dass erstmals vor einer Wahl drei Personen realistischerweise Kanzler bzw. Kanzlerin werden können, und es deshalb auch erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik sogenannte Trielle geben wird.
Drittens ist es die erste Bundestagswahl, die inmitten einer Pandemie stattfindet, und die aller Voraussicht nach auch in einer tatsächlich pandemischen Lage stattfinden wird, sofern es zu einer vierten Welle kommt. Es wird in starkem Maße darauf ankommen, welche Antworten die Parteien auf die Frage geben werden, wie die Pandemie dauerhaft zu bewältigen ist (Harari: 2020). Die Beantwortung dieser Frage hat bei einer globalen Pandemie natürlich auch einer internationale Dimension (Aronoff: 2020), wie sich an der Frage der Freigabe der Patente, aber auch der gestiegenen Infektionszahlen durch Reiserückkehrerinnen und -rückkehrer zeigt.
Viertens wird bei dieser Bundestagswahl erstmals über die politische Performanz einer offen antidemokratische, Fake News verbreitenden und die Gesellschaft polarisierenden Partei (Fuchs/Middelhoff: 2019; Hillje: 2018) abgestimmt. Es wird ein Gradmesser der demokratischen Stabilität sein, wie stark die selbsternannte Alternative für Deutschland im Vergleich zur letzten Bundestagswahl abstimmt. Und es wird spannend zu sehen sein, wie eine populistische Partei damit umgehen wird, dass ihr das populus mehrheitlich die Zustimmung verweigert.
Fünftens ist die Wahrscheinlichkeit nicht unerheblich, dass das im Ergebnis dieser Bundestagswahl eine Koalition mit mehr als zwei Parteien entsteht. Denn es ist gut möglich, dass es keine zwei Parteien geben wird, die zusammen eine Regierung bilden können. Laut den Umfragen Mitte August ist keinerlei Zweierkoalition mehr möglich, und genau das hat es so noch nie gegeben Daher könnte die Länge und Komplexität der letzten Koalitionsverhandlungen 2017 noch übertroffen werden. Eine Dreierkoalition ist sehr wahrscheinlich, und wird wohl auch der neue Normalfall werden.
Es ist also eine in mindestens fünffacher Hinsicht eine besondere Wahl. Sie wird entscheidend nicht nur für die weitere Politik in Deutschland, sondern ob der mittlerweile eingenommenen Führungs-rolle Deutschlands in Europa (Rittberger: 2015; Crome: 2014) auch wegweisend für den Kontinent.
Vom negative Campaigning aus dem Schlafwagen zur aktivierenden Flut
Der Wahlkampf begann damit, dass die Sozialdemokratie zu einem sehr frühen Zeitpunkt Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten bestimmte. Das ist nicht ohne eine gewisse Pointe, da dieser ja nicht Parteichef werden sollte, jetzt aber den Kanzlerkandidaten darstellt. Nach Scharping, Schröder, Steinbrück, Steinmeier und Schulz ist er jetzt der sechste eher moderate Sozialdemokrat, dessen Name mit S beginnt, den die SPD ins Rennen schickt. Erst ganz kurz vor dem Ende des Wahlkampfes hat dies Momentum erzeugt, was umgekehrt ist zur letzten Wahl, als die Ernennung von Martin Schulz als Kanzlerkandidat erst viele elektrisierte, und dann der Schulz-Zug entgleiste, wie es hieß. Der Scholz-Zug hat zum Ende den Weg auf die Schiene gefunden.
Die Grünen haben, ganz anders als ihr ursprünglich basisdemokratisches Selbstverständnis es erwarten ließe, hochprofessionell fast nichts durchsickern lassen, sich dann für Annalena Baerbock entschieden, und gerade durch den Kontrast zum offen ausgetragenen Machtkampf zwischen Armin Laschet und Markus Söder innerhalb der Union (von Lucke: 2021) anfangs ein besonderes Momentum gehabt, welches sich in 28% der Umfragen widerspiegelte. Dies hatte sicher auch mit den diversen Maskenaffären zu tun (Crouch: 2021), in denen wir die Bereicherung inmitten der Pandemie bis heute ausschließlich von Unionsabgeordneten kennen. Dann aber begannen hausgemachte Fehler der Grünen (wie nicht genügend überprüfte Lebensläufe und Zahlungsflüsse), immer wiederkehrende Attacken der Union, aber auch die bewusste Verbreitung von Fake News (vgl. Schaeffer: 2018), z.B. Annalena Baerbock möchte Haustiere verbieten oder die Witwenrente zugunsten von Geflüchteten kürzen, in einer so noch nicht da gewesenen Art und Weise.
Die Strategie der Union hat eine Annäherung an die politische Strategie der US-Republikaner vollzogen. Denn es gab diverse Angriffe ad personam, eine bewusste Verächtlichmachung der gegnerischen Kandidatin und direkte Angriffe auf ihre Glaubwürdigkeit, was definitive Kollateralschäden in der politischen Kultur bewirkt (vgl. Levitsky/Ziblatt: 2018). Anstelle von Inhalten wurde über Fußnoten in Büchern, zu späte Meldungen von Parteieinkünften und andere reale oder vermeintliche Verfehlungen Annalena Baerbocks gesprochen, während die Union bei inhaltlichen Fragen sehr im Ungefähren blieb. Diese Strategie zahlte sich zwischenzeitlich jedoch aus, denn die Union hat die Grünen mittlerweile deutlich überholt. Kombiniert wird dies mit der paradoxen Erzählung, dass man sich um die Klimapolitik kümmern werde, aber dabei niemandem wehtun wird. Dies ist zwar logisch unmöglich (Habeck: 2021; Greffrath: 2021), wird jedoch von vielen bereitwillig geglaubt.
Dann aber kam die Flutkatastrophe, die insbesondere in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz für enorme Verwüstungen und verheerende Schäden sorgte, und bei der viele hundert Menschen ihr Leben verloren haben. Relativ schnell hat sich hier die Einsicht und das Narrativ durchgesetzt, dass die Klimakrise zu viel mehr und noch drastischeren Ereignissen wie diesen führt, und dass dementsprechend Versäumnisse in der Klimapolitik (vgl. Greffrath: 2021; Wallace-Wells: 2019; Klein: 2015) zu dieser Katastrophe beigetragen haben, genau wie unzureichender Katastrophenschutz, aber auch eine viel zu langsame Evakuierung der Anwohnerinnen und Anwohner.
Hier wurden nun die jahrzehntelangen Versäumnisse der Union zum Thema, aber auch eine wenig gelungene Symbolpolitik des CDU-Kandidaten Armin Laschet, der ja auch Ministerpräsident des stark betroffenen Nordrhein-Westfalens ist. Dass er inmitten einer Gedenkveranstaltung lachend und feixend fotografiert wurde, dürften viele (und nicht nur konservative Wählerinnen und Wähler) als pietätlos empfinden. Insbesondere der Kontrast zum Bildnis der Kanzlerin war deutlich, welche beim Rundgang durch betroffene Gebiete in Rheinland-Pfalz die Ministerpräsidentin Malu Dreyer stützte (sie ist aufgrund ihrer Erkrankung an Multiper Sklerose nur eingeschränkt mobil), und damit souverän signalisierte: In der Not halten wir alle zusammen, im Wortsinne. Damit wurde aber auch unfreiwillig deutlich, dass Armin Laschet das nicht beherrscht, was die scheidende Bundeskanzlerin auszeichnete: professionelles Krisenmanagement. Dadurch werden jetzt die Karten im Wahlkampf ganz neu gemischt. Hinzu kommt, dass Armin Laschet genau das vorgeworfen wurde, was die Union in starkem Maße Annalena Baerbock vorwarf, nämlich bei seinem Buch unsauber gearbeitet zu haben. Auch das ging zu Lasten seiner Glaubwürdigkeit, nach diesen massiven Attacken.
Die Themen: Klimakrise, Digitalisierung, Demokratisierung, Resilienzstärkung
Dieser Wahlkampf zeichnete sich nämlich bisher durch ein erhebliches Maß an Postdemokratie aus (vgl. Bein: 2018; Crouch: 2008). Denn es wurde so gut wie nie über Inhalte gestritten, die grundlegenden programmatischen Differenzen und Unterschiede in der gewünschten Gestaltung der Gesellschaft (die klar vorhanden sind) kamen bisher kaum heraus. Dies lag sicher auch erheblich an der Union, die bisher einen weitgehend postinhaltlichen Wahlkampf führte. Es ging sehr stark um die jeweiligen Personen, aber kaum um gesamtgesellschaftliche Konzepte. Der Wahlkampf war bisher erschreckend inhaltsleer, obgleich doch so viele Themen derzeit relevant sind.
Jedoch werden die relevanten Themen, aber auch die politischen Differenzen (vgl. Marchart: 2010) immer deutlicher. Dieser Wahlkampf wird in viel stärkerem Maße als jede frühere Bundestagswahl im Zeichen der Klimakrise (Mann: 2021; Klein: 2015) stehen. Das Urteil des Bundesverfassungs-gerichts, welches im Frühjahr die Klimapolitik der Großen Koalition als verfassungswidrig kennzeichnete (Greffrath: 2021), insbesondere weil sie gegen das Gebot der „intertemporalen Gerechtigkeit“ verstößt, also im Klartext für die Ungerechtigkeit sorgt, dass wenn wir so weitermachen, da unsere Kinder und Kindeskinder dann keine lebenswerte Umwelt mehr vorfinden, hat den Diskurs verändert. Denn inzwischen geht es in der Klimapolitik nicht mehr nur um eine Frage des politischen Willens, sondern durch das Urteil eben um Gesetzes- und Verfassungskonformität. Dies aber ist gerade für politisch Konservative Wählerinnen und Wähler, noch einmal eine ganz andere Begründung, denn hier geht es um Autorität (Haidt: 2012), um die Autorität eines Bundesverfassungsgerichtsurteils. Vor allem aber geht es darum, dass hier endlich tatsächlich ein Politikwechsel hin zu einer Politik eingeschlagen wird, welche mit dem Pariser Klimaabkommen und dem darin festgehaltenen 1,5-Grad-Ziel vereinbar ist.
Auch die weitere Digitalisierung des Landes (Lender: 2019) ist ein absolut relevantes Wahlkampfthema. Wir haben in der Pandemie gesehen, dass eine unzureichende Digitalisierung im Zweifel Leben kosten kann, eben weil sich Gesundheitsämter Faxe hin- und herschicken. Wir führen ernsthaft Debatten darüber, ob wir 5G an jeder Milchkanne brauchen, und nicht darüber, wann das endlich umgesetzt wird. Das Homeschooling hat mehr schlecht als Recht geklappt, und es wurde ganz viel improvisiert. Den Rückstand, den Deutschland international bei der Digitalisierung hat, verantworten natürlich die Parteien, die in der Regierung die Gelegenheit gehabt hätten, das Thema anzugehen. Die FDP hat sich in den letzten Jahren erfolgreich als Digitalpartei inszeniert, aber es ist ob ihrer Verweigerung zur Jamaika-Koalition unklar, was sie hier umsetzen können. Die Bündnisgrünen haben eine umfassende digitale Agenda. Es muss darum gehen, wie alle staatlichen Institutionen zukunftsfest gemacht werden können und wir gleichzeitig Lösungen für den Herbst und Winter entwickeln, wenn bestimmte Sachen pandemiebedingt wieder nicht gehen werden.
Auch die weitere Demokratisierung der Gesellschaft, aber in manchen Regionen schlicht auch die Verteidigung demokratischer Werte und Grundsätze vor Rechtspopulisten, Querdenkern und anderen Antidemokraten steht auf der Tagesordnung, und das nicht erst seit dieser Bundestagswahl (Levitsky/Ziblatt: 2019; Heitmeyer, 2018). Es geht darum, jetzt effektiv die Zivilgesellschaft (Acemoglu/Robinson: 2019) zu stärken und Bündnisse, Verbände und Initiativen für Weltoffenheit und Zivilcourage zu stärken (Chenoweth: 2020; Habeck: 2018), statt ihnen die Mittel zu kürzen oder sie dauerhaft nur auf Projektbasis anzustellen. Es braucht neue Formen der Beteiligung, da die Distanz vieler Menschen zur Demokratie größer wird. Denn es ist doch frappierend, dass über 90% der Bevölkerung im Grundsatz die Ideen der Demokratie befürworten, die Art und Weise ihrer konkreten Ausübung aber nur knapp 60%. Ob Volksentscheide, Volksbegehren, Bürgerinnen- und Bürgerhaushalte, Bürgerräte oder Formen digitaler demokratischer Beteiligung: Es geht darum, die Balance zwischen repräsentativer und direkter Demokratie neu zu justieren (Wawzyniak). Wenn Menschen das Gefühl haben, wirklich beteiligt zu sein, mitreden zu können und eingebunden zu werden, ist dies auch ein wichtiges Mittel im Kampf gegen den Rechtspopulismus (Habeck: 2021; Heitmeyer: 2018; Rosa: 2016). Entscheidend wird sein, dass Demokratieförderung endlich ein Querschnittsthema mit Priorität wird.
Die Bundestagswahl wird wohl mitten in der vierten Welle der Pandemie stattfinden. Schon dieser Faktor selbst wird die Art und Weise der Wahlkampfführung verändern. Das Thema ist aber nicht nur die Frage, wie dann ad hoc klug reagiert wird, sondern wie wir uns als Gesellschaft viel besser auf die vielfachen Krisen vorbereiten. Denn diese Pandemie wird nicht die letzte sein, und es wird durch die fortgeschrittene Klimakrise noch viel mehr Extremwettereignisse mit noch mehr Schäden geben (Klein: 2015). Wir brauchen also eine viel größere Resilienz, eine gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit (Neckel: 2021; Mazzucato: 2020). Es bedarf eines gut funktionierenden Katastrophenschutzes, effektiven Frühwarnsystemen, eine effektive Bündelung von Entscheidungskompetenzen in pandemischen Lagen statt des zeitraubenden und fehleranfälligen Pandemiemanagements in der Ministerpräsidentenkonferenz. Es braucht effektive Institutionen, die über ausreichende Mittel, fachliche Kompetenzen, technische Ausstattung und Entscheidungsbefugnisse verfügen. Denn den gesamtgesellschaftlichen Stresstest namens Corona-Pandemie haben wir mehr schlecht als Recht bestanden, und es geht ja darum, genau wie die asiatischen Gesellschaften, aus Pandemien klug zu lernen und widerstandsfähiger zu werden. Gleichzeitig braucht es, siehe Flutkatastrophe, ab sofort die Doppelstrategie, dass man einerseits versucht, Emissionen zu reduzieren, und andererseits sich schon jetzt wappnet für die irreversiblen Folgen der Klimakrise.
Ein Post-Merkel-Gesellschaftsvertrag
Es endet mit dieser Bundestagswahl tatsächlich eine Ära. Es gab zwischen der Gesellschaft und der Dauerkanzlerin eine Art unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag. Dieser lautete, dass es einerseits Vertrauen darin gibt, dass die Kanzlerin die Dinge schon regelt, insbesondere die Krisen, und sie andererseits die Bevölkerung nicht mit zu viel Politik, zu viel Inhalten und schon gar nicht Zumutungen behelligt. Paradigmatisch wurde dieser Gesellschaftsvertrag Merkels im Kanzlerduell 2013, indem sie folgende berühmt gewordene drei Worte sagt: „Sie kennen mich“. Die Politik wurde dabei wenig erklärt, oft verordnet, und als Reaktion auf bestimmte Ereignisse auch ohne großes Aufhebens revidiert, siehe die Kehrtwende in der Atompolitik nach Fukushima
Das wird nicht mehr funktionieren, am ehesten noch bei Olaf Scholz, und das ist erkennbar auch die Strategie der SPD. Es gibt jetzt allerdings eine Sehnsucht nach einer Politik, die auch in die Zukunft denkt, die nicht immer nur inkrementell und kleinteilig ist, sondern in der die einzelnen politischen Schritte als Teil eines größeren Plans gesehen wird. Ebenso werden die Krisen schmerzhafte Entscheidungen und Einschnitte erfordern, schon allein dadurch, dass die öffentlichen Haushalte jetzt natürlich durch die Rettungspakete arg belastet sind, und es zu harten finanziellen Verteilungskämpfen kommen wird. Genau dafür braucht es eine erklärende, eine zuhörende Politik. Es braucht das, was Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun als „empathisches Einverständnis und gleichzeitig klärende Konfrontation“ bezeichnet haben (Pörksen/Schulz von Thun, 2020). Und es braucht tatsächlich beides: die klare Anerkennung der Schwierigkeiten, auch des Veränderungsschmerzes (vgl. Habeck: 2021), und dennoch klare Entscheidungen statt eines weiteren Durchwurstelns. Dieses ist sowohl angesichts der Klimakrise als auch des demographischen Wandels keine Option mehr.
Die Koalitionsfrage
Wichtig wird natürlich die Frage, wer mit wem gemeinsam das Land regieren wird. Nachdem eine sehr lange Zeit bei vielen Menschen es fast schon als gesetzt galt, dass es eine schwarz-grüne Koalition geben wird, ist diese derzeit rechnerisch gar nicht mehr möglich, und sorgt auch in relevanten Teilen der betroffenen Parteien für Unmut. Es wird wohl eine Dreierkoalition werden.
Nach der Wahl in Sachsen-Anhalt wurde eine so genannte Deutschland-Koalition im besonderen Maße ins Spiel gebracht, also ein Bündnis bestehend aus CDU/CSU, SPD und FDP. Rechnerisch würde dies wohl reichen, doch die Frage ist: was soll hier das Narrativ sein? Denn es erscheint wie eine Verlängerung der (ehemals) Großen Koalition, bereichert um die FDP. Diese Koalition wird gerade innerhalb der SPD auch kaum Freunde finden, da ihre Programmatik jener sowohl der Union als auch der FDP entgegensteht. Sollte die SPD tatsächlich stärkste Kraft werden, könnte dies allerdings tatsächlich eine Überlegung werden. Denn dann könnte die Union zumindest an der Regierung bleiben, und hätte gemeinsam mit der FDP die Möglichkeit, vieles von dem zu blockieren, was die SPD möchte. Diese Koalition entspricht am ehesten dem Weiter-So, für das die Union steht.
Die Jamaika-Koalition, welche 2017 wegen der FDP nicht zustande kam, ist natürlich ebenfalls eine erneute Option. In dieser wäre jetzt klar, dass dann Grüne und FDP die politisch treibenden Kräfte in ihren jeweiligen Themen (Klima, Landwirtschaft, Verkehr vs. Digitalisierung, Wirtschaftsförderung) sind, während die Union sich weiterhin auf die administrativen Aufgaben konzentriert. Jedoch würden die Grünen diesmal ja deutlich gestärkt in diese Koalition gehen, und gleichzeitig müsste man der FDP sehr weit entgegenkommen, damit sie glaubwürdig sagen kann, dass dieses Jamaika jetzt ein anderes ist, als es 2017 gewesen wäre. Christian Lindner muss sein berühmtes Diktum vergessen machen „Es ist besser, nicht zu regieren, als schlecht zu regieren“.
Die rot-grün-rote oder grün-rot-rote Option liegt jetzt, aufgrund der neuen Stärke der Sozialdemokratie, rein rechnerisch auch wieder im Bereich des Möglichen. Allerdings ist nach wie vor die außenpolitische Programmatik von SPD und Grünen mit jener der LINKEN unvereinbar, und bei letzterer ist auch immer noch nicht klar, ob sie tatsächlich regieren möchte. Jedoch wäre es für SPD und Grüne deutlich von Vorteil, wenn R2G rechnerisch möglich wäre, denn das kann in Verhandlungen insbesondere in der Arbeitsmarktpolitik, Steuerpolitik und Wirtschaftspolitik als Druckmittel genutzt werden.
Am wahrscheinlichsten und durchführbarsten ist nach wie vor eine Ampelkoalition. Denn bei einem erkennbar schlechten Wahlergebnis der Union (worauf vieles hindeutet), ist es stringent, dass diese in die Opposition geht. Der Wunsch nach Modernisierung statt reiner Verwaltung des Landes, nach vorausschauender Krisenresilienz ist allen drei Parteien gegeben, wenngleich mit sehr unterschiedlichen konkreten Vorstellungen. Der Knackpunkt wird die Steuerpolitik sein und das Versprechen der FDP, keinerlei Steuern zu erhöhen. Denn die Programmatik insbesondere der Grünen für eine sozial-ökologische Transformation ist ohne staatliche Mehreinnahmen oder Neuverschuldung nicht realisierbar. Allerdings wäre es hier durchaus möglich, dass neben einem Klimaschutzministerium ein Digitalministerium eingerichtet wird und die SPD natürlich weiterhin das Arbeitsministerium hat. Hinzu kommt, dass man die FDP bewusst vor die Wahl stellen kann: entweder Ampelkoalition, oder R2G. Mit diesem Narrativ könnte sich die FDP kaum verweigern können, denn ihre Anhängerinnen und Anhänger erwarten klar von Ihnen, dass sie regieren, wie das Scheitern der Jamaika-Koalition damals eindrucksvoll zeigte.
Fazit: Worauf es diesmal ankommt
Bei dieser Bundestagswahl kommt es darauf an, dass es einen tatsächlichen Politikwechsel gibt. Dass endlich entschieden in der Klimapolitik umgesteuert wird, denn das hat Deutschland mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) schon einmal geschafft (Scheer: 2010). Es geht darum, dass die Infrastruktur insgesamt, aber auch die Digitalisierung endlich konsequent vorangetrieben wird, und hierfür auch klar investiert wird. Und es geht ganz klar darum, dass das Land nicht vom Vergangenen her betrachtet wird, sondern für die multiplen aktuellen Krisen und Herausforderungen der Zukunft (vgl. Krell: 2019; Hofreiter: 2019; Harari: 2018) gewappnet wird. Dies aber funktioniert nur, wenn Gewohnheiten und Pfadabhängigkeiten überwunden werden. Wenn es eine Koalition gibt, die eine ganz andere Narration und Legitimation bekommt. Und wenn verschiedene Schwerpunkte, Perspektiven und Herzensthemen zusammengehen, weshalb einer Dreierkoalition zwar instabiler sein wird als bisher, aber nicht per se für das Regieren schlechter sein muss. All dies führt zu einer einzigen Schlussfolgerung: Bei dieser Bundestagswahl geht es darum, dass die Union in die Opposition gehen muss, und nach 16 Jahren das Regierungszentrum von progressiver Politik geprägt ist (Hofreiter. 2019).
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