Der erste Eindruck: Gewerkschaften in Bewegung
Voller Eindrücke kehre ich vom Kongress gewerkschaftliche Erneuerung zurück. Es wurde deutlich, dass die Gewerkschaften sich bewegen, und dass sie gewillt sind, in den Dialog mit politischen Aktivistinnen und Aktivisten zu treten und sich auch selbst zu hinterfragen. Sehr schön war, dass es schön konkret wurde, wenn es um aktuelle Arbeitskämpfe und deren Auswertung ging.
Grußworte mal anders
Die zwei von drei Grußworten am Samstag waren anders, als man dies sonst von gewerkschaftlichen Reden kennt. Insbesondere Sebastian Wertmüller, der Geschäftsführer von Ver.di Südostniedersachsen, wartete mit rhetorischen Perlen auf:
„Wenn ich so bisschen zurückgucke, vor zehn Jahren war die Welt auch schon schlecht. Aber vor zehn Jahren kannten wir keine AfD, keine FPÖ in der Regierung und keinen Salvini“
„Es ist ein anderes Europa, in dem ein faschistischer Innenminister regiert. Das hat Folgen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa. Wir können uns das jetzt schon in Ungarn und Österreich angucken.“
„Die Mehrzahl unserer Ver.di Mitglieder ist weiblich; und jeder rechtspopulistische Diskurs ist frauenfeindlich und antigenderistisch“.
Gerade der letzte Satz gehört sicher nicht zu dem, was konventionelle gewerkschaftliche Ansprachen bieten. Es zeigt aber auch klar auf, dass hier verstanden wurde, dass die gewerkschaftliche Kultur attraktiver für Frauen werden muss.
Theorie der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise hui, PowerPoint Karaoke pfui
Der Vortrag von Klaus Dörre von der Universität Jena zu Rechtspopulismus und Gewerkschaften wartete mit vielem Bekanntem auf. Wichtig war, dass er noch einmal eindrücklich den psychologischen Kernmechanismus des Rechtspopulismus herausarbeitete: Es geht um Selbstaufwertung durch Fremdabwertung, insbesondere bei denjenigen, die sich (ob zurecht oder nicht) bedroht, abgehängt oder degradiert fühlen. Er zeigte aber sehr eindrucksvoll auf, dass der klassische kapitalistische Krisenlösungsmodus, nämlich Wirtschaftswachstum, versperrt ist aufgrund der ökologischen und klimatischen Folgewirkungen. Er nannte dies die „ökonomisch-ökologische Zangenkrise“. Weniger schön war, dass er teils PowerPoint Karaoke machte, da er offenkundig nicht wusste, was dann jeweils auf der nächsten Folie kommt und sich etwa achtmal darüber beschwerte, zu wenig Zeit zu haben, statt einfach zu reden.
Ein klares Highlight: Die Star-Organizerin Jane McAlevey
Das Highlight des Kongresses war sicherlich der Auftritt von Jane McAlevey, dem Star des gewerkschaftlichen Organizing in den USA. Ihr Ansatz ist durchaus radikal: Jeder redet mit jedem, jeder Gesprächsfortschritt wird dokumentiert, es werden Unterschriftensammlungen als Tests eingesetzt, wie eine Abteilung steht, und nur wenn 95% streikbereit sind, dann geht es los. Und nicht etwa als Warnstreik, sondern von vornherein erst einmal unabsehbar lang. Es wird also systematisch gewerkschaftliche Zwangsmacht und eine erdrückende Mehrheit aufgebaut, womit ihr auch einige spektakuläre Erfolge gelangen. Jedoch: Was ist, wenn 90% streiken wollen? Dann könnte dies durchaus demotivierend wirken. Und gerade die transparente Dokumentation des Ansprachefortschritts dürfte mit der deutschen Datenschutz-Grundverordnung unvereinbar sein. Jedoch hat sie noch einmal klar gemacht: Es geht darum, mit denen zu sprechen, die noch nicht überzeugt sind. Und es geht darum, die informellen Meinungsführer in einer Gruppe für sich zu gewinnen, damit diese dann als gewerkschaftliche Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wirken können. Beides erscheint sehr sinnvoll und für die gewerkschaftliche Ansprache hierzulande adaptierbar.
Der Nachmittagsworkshop: Inhaltlich gut, methodisch ausbaufähig
Am Nachmittag besuchte ich den Workshop zu „Gegenwehr im prekären und Niedriglohnbereich“. Die Eingangsstatements zeigten auf, wie unterschiedlich die Situation im Einzelhandel, bei Amazon und in der Fast-Food-Systemgastronomie ist. Genau hier zeigt sich einmal mehr das Kontingenzprinzip von Organisationen: Es gibt nicht den einen Weg, sondern dieser muss immer auf die jeweilige Branche und den jeweiligen Betrieb angepasst werden.
Dass im Workshop allerdings nach einer Stunde erst einmal die Frage aufkam, wie man denn jetzt methodisch weitermache, war, offen geschrieben, subprofessionell. Die Gesprächskreise, in denen dann die jeweiligen Referentinnen und Referenten rotierten, waren hingegen eine gute Idee und ergaben fruchtbare Diskussionen.
Branchentreffen der NGG: Nestwärme, Nahrung, Genuss und schnell Gaststätte
Beim Branchentreffen der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) war abends heimelige Stimmung. Nach einer recht langen Vorstellungsrunde zum Selbstverständnis und zur Rolle der NGG bei dieser Konferenz waren sich alle schnell einig, dass ein gemeinschaftliches Abendessen auch etwas Schönes ist. Nahrung, Genuss, Gaststätten eben .
Beim Abendessen hatte ich dann sowohl die Gelegenheit, mit Orry Mittenmaier, dem gegen heftige Widerstände gewählten Betriebsrat bei Deliveroo zu sprechen, als auch mit dem Betriebsratsvorsitzenden der Riesaer Teigwaren, der es in einem heftigen Arbeitskampf zur Gründung eines Betriebsrates geschafft hat, dass jetzt 85% der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind. Sie sind beide, jeder für sich, eindrucksvolle Persönlichkeiten, und echte Helden der Arbeit. Für den Osten sind diese 85%, die bei Riesaer Teigwaren erreicht wurden, ein hervorragender Organisationsgrad, und auch das wurde deutlich: Es muss gerade im Osten gewerkschaftlich deutlich mehr passieren!
Party vs. Politische Menschen
Die Party war eher naja. Aber wenn eben sehr politische Menschen, die sich teils lange nicht gesehen haben, Aufeinander treffen, dann fällt der Tanzabend gerne mal aus. Immerhin hat Cuba Sí ordentliche Cocktails manufakturiert. Und immerhin ging es mit den Party-Animals von der NGG noch ins „Laut“, auch wenn dies nicht in einer Parallelstrasse lag, wie eine Gewerkschaftssekretärin aus Braunschweig meinte…
Nicht nur Antworten, sondern auch viele Fragen
Was auffiel, ist eine nach wie vor bestehende Ratlosigkeit über die richtige Ansprachestrategie. Auch haben die Gewerkschaften noch kein adäquates Gegenmittel gegen die Ängste der Beschäftigten gefunden, sich an Streiks und gewerkschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen. Angesichts der Härte mancher Arbeitskämpfe sind diese Ängste der Beschäftigten ja durchaus rational. Es braucht also auch ganz viel Psychologie in der Gewerkschaftsarbeit. Hier setze ich mit dem Modell der Grundwerte und neuesten Erkenntnissen der Sozialpsychologie an.
Organizing und der Gewerkschaftsapparat
Organizing ist wichtig, aber kann nicht alles sein. In den Flurgesprächen wurde auch deutlich, dass es für einige gestandene Gewerkschaftshaudegen nicht gerade das schönste Gefühl ist, wenn ihnen auf der Konferenz erzählt wird, dass sie viel zu defensiv sind und ihnen vorgehalten wird, was sie alles nicht machen. Hier gilt der alte Grundsatz: Das Kriterium ist die Praxis. Und vieles von dem, was in der Theorie gut klingt, ist in der gewerkschaftlichen Praxis das Bohren sehr dicker Bretter. Daher kann ich den Unmut der gestandenen Kolleginnen und Kollegen durchaus nachvollziehen.
Das Fazit: Insgesamt eine gelungene und inspirierende Konferenz
Alles in allem jedenfalls eine sehr gelungene Konferenz, die viele Eindrücke und Begegnungen, beeindruckende Menschen und viele Inspirationen für meine Trainings, Reden und Coachings im gewerkschaftlichen Kontext bereithielt. Mein Dank gilt den Organisatorinnen und Organisatoren, denn eine Konferenz mit mehr als 700 Leuten zu stemmen, ist wirklich eine besondere Leistung. Vielen Dank, dass ich mit dabei sein konnte!