Bündnis 90/die Grünen sind nach Umfragen erstmals stärkste politische Kraft in Deutschland. Das ist bemerkenswert, wenngleich da jetzt auch ein Hype nach der Europawahl mitschwingt. Dennoch bin ich überzeugt davon, dass die Grünen mittelfristig die führende Partei im Mitte-Links-Spektrum werden, und zwar aus folgenden zehn Gründen:
Die Demographie
Erstens die Demographie. Bei den Jungwählerinnen und Jungwählern sind die Grünen mit deutlichem Abstand vor allen anderen Parteien führend. Auch bei Schülerwahlen haben sie deutlich geführt.
Die Personen
Zweitens die Personen. Sowohl Robert Habeck als auch Annalena Baerbock haben Ausstrahlung und Zugkraft. Mit ihnen wird ein positives Image verbunden, und zumindest Habeck zieht viele Menschen auch deutlich über das eigene parteipolitische Milieu an. Das lässt sich so von Annegret Kramp-Karrenbauer, Christian Lindner, Alexander Gauland, Bernd Riexinger und Katja Kipping nicht sagen, auch von der scheidenden Andrea Nahles nicht. Personalpolitisch sind die Grünen derzeit am besten aufgestellt, und sowohl Habeck als auch Baerbock haben ihre politische Zukunft rein vom Alter her eher noch vor sich als hinter sich. In einer zunehmend personalisierten Politik ist das ein großer Vorteil.
Das weibliche Elektorat
Drittens das weibliche Elektorat. Die Grünen werden deutlich stärker von Frauen gewählt, und sie haben auch innerhalb ihrer Mitgliedschaft viel mehr Frauen als die anderen Parteien. Frauen neigen deutlich weniger als Männer zu Protestwahlen und populistischem Wahlverhalten, und die Grünen sind die einzige Partei, welche Frauen allen Alters anspricht. Damit hat sie ein Alleinstellungsmerkmal, was relevant ist, da etwas mehr als 50% der Gesellschaft Frauen sind, und diese im Durchschnitt auch 7 Jahre länger leben.
Der gesellschaftliche Diskurswechsel
Viertens der gesellschaftliche Diskurswechsel, hin zu Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit und Artenvielfalt, und weg von Geflüchteten. Die Fridays for Future haben sich als erstaunlich langatmig und mobilisierungsstark erwiesen, und mindestens die Diskursverschiebung wird anhalten.
Das professionelle Konfliktmanagement
Fünftens das professionelle Konfliktmanagement. Bei den Grünen dringen (natürlich bestehende) Konflikte nicht nach außen, die Partei erscheint geschlossen und harmonisch. Dies ist gerade derzeit für CDU, LINKE und vor allem die SPD nicht gegeben. Zerstrittene Parteien werden aber nicht gewählt.
Der Markenkern
Sechstens der Markenkern. Die Grünen werden klar mit dem Umwelt- und Klimaschutz assoziiert, und haben hier auch keine relevante Konkurrenz (nur marginal die Tierschutzpartei und die ÖDP). Um soziale Gerechtigkeit streiten sich SPD und LINKE, um Sicherheit, Tradition und Heimat CDU und AfD, und die FDP gilt (zurecht) als eher wirtschaftsliberale denn tatsächlich im besten Sinne liberale Partei. Dieser klare Markenkern ist deshalb so wichtig, weil wir Menschen (in unterschiedlich starkem Ausmaß) so genannte „kognitive Geizhälse“ sind, das heißt wir verarbeiten nicht mehr Informationen als nötig. Sofern wir also finden, dass ein bestimmtes Thema wichtig ist, wird die Partei genommen, die als erstes damit assoziiert wird (die so genannte „Verfügbarkeitsheuristik“). Und das sind beim Klima eben eindeutig die Grünen.
Die voranschreitende Klimakrise
Siebtens die voranschreitende Klimakrise. Die Kenntnis über den Klimawandel gibt es seit Anfang der 1970er, schon bei der Weltklimakonferenz in Rio 1992 sollte etwas unternommen werden. Tatsächlich sind die Emissionen nur 2008 gesunken, und das wegen der globalen kapitalistischen Krise, nicht aber aufgrund effektiver politischer Anstrengungen. Die heißen Sommer und Katastrophen, welche den Klimawandel auch im Alltag und der Klimakrise deutlich machen, werden zunehmen, wovon dann primär die Grünen profitieren.
Die „German Angst“
Achtens das in Deutschland viel stärker ausgeprägte Sicherheitsstreben („german angst“), welches schon Hofstede in seinen Untersuchungen zu den Kulturdimensionen verschiedener Länder auch empirisch verifizieren konnte. Dieses Sicherheitsstreben steht diametral zu den teils existenziellen Ängsten, die der Klimawandel verursacht. Daher verspricht ein „weiter so“, anders als früher, keine Sicherheit mehr. Genau deshalb werden die Grünen, neben den besseren Umgangsformen, zunehmend auch für konservative Wählerinnen und Wähler interessant.
Der moralische Distinktionsgewinn
Neuntens, und so ehrlich sollte man sein, der moralische Distinktionsgewinn, bzw. das Gefühl psychologischer Erleichterung. Menschen streben (in unterschiedlich starkem Maße) danach, anderen Menschen überlegen zu sein, z.B. moralisch. Dies kann durch eine Stimme bei den Grünen realisiert werden, denn so tut mensch ja gefühlt etwas für Klima- und Artenschutz, was andere nicht tun. Das ist der moralische Distinktionsgewinn. Andererseits kann eine Stimme bei den Grünen auch ein Gefühl psychologischer Erleichterung auslösen, denn eigentlich weiß man, dass Fliegen, Fleischkonsum oder gar ein Sports Utility Vehicle nicht gerade feierlich ist. Aber wenn man dann Grüne wählt, hat man ja wenigstens etwas getan, was dann die kognitive Dissonanz reduziert.
Dies lässt sich natürlich aus einer kantischen Ethik sowie einer Gesinnungsethik kritisieren, auch zurecht. Es bleibt jedoch ein Faktum: Nur eine Stimme für die Grünen vermag im derzeitigen Parteienspektrum einen solchen individuellen psychologischen Gewinn zu bewirken. In einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz), in der möglichst jede und jeder etwas besonderes sein und sich unterscheiden möchte, ist dies ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
Die Dimension der Weltoffenheit und des Kosmopolitimus
Zehntens die Dimension der Weltoffenheit und des Kosmopolitismus. War die Politik früher wesentlich geprägt von der Unterscheidung Links und Rechts, so kommen heute die beiden anderen Pole Weltoffenheit/Kosmopolitismus versus Autorität/Nationalismus hinzu. Gerade auf diesem Pol sind die Grünen die entschiedensten Gegenspieler der AfD. Mit der Ausnahme von Boris Palmer gibt es auch in der Haltung kein Wackeln gegenüber Nationalismus, Autoritarismus und Fremdenfeindlichkeit, was zuletzt auch durch die dezidiert proeuropäische Kampagne deutlich wurde. Daher sind die Grünen die erste Assoziation vieler Menschen, wenn es um ein Gegengewicht zur AfD geht (das könnte ihr DIE LINKE mittelfristig streitig machen). In Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung ist auch das ein gewichtiges politisches Pfund.