Das Umfragewunder
Die Partei DIE LINKE ist in den Umfragen in den letzten Jahren die stabilste Partei, die es gibt. Ihr Wert oszilliert immer rund um 8%, und weist wenig Ausschläge nach unten und nach oben aus. Das bedeutet einerseits natürlich, dass es offenkundig eine stabile Wählerbasis gibt. Andererseits aber scheint die Partei unterhalb der 10%-Marke wie festgefahren zu sein. Dies wiederum ist durchaus erstaunlich, denn normalerweise hat die Partei immer von der Schwäche der SPD profitiert.
Von der PDS zur Linken
Die Linke war ganz ursprünglich die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), die Staatspartei der DDR. Nach der Wiedervereinigung wandelte sich in die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) um und verstand sich als Protestpartei, Kümmererpartei sowie als ostdeutsche Identitätspartei. Gerade dadurch, dass viele Ostdeutsche Deklassierungserfahrungen machten, manche einen sozialen Abstieg erlebten und nicht wenige sich als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse fühlten (Köpping: 2018). Dadurch sind natürlich viele negative Gefühle entstanden, auch durch nicht erfüllte Erwartungen, welche mit der Wiedervereinigung verknüpft waren (z.B. Kohls „blühende Landschaften“). Die PDS verstand es, diese Empörung aufzunehmen und als Interessenvertreterin der Ostdeutschen aufzutreten. In den alten Bundesländern hingegen könnte sie, insbesondere aufgrund des dort tief verwurzelten Antikommunismus, nie Fuß fassen.
Als die Partei 2002 bis auf zwei direkt gewählte Abgeordnete aus dem Bundestag flog, war sie in einer existenziellen Krise, welche dadurch aufgehoben wurde, dass sich aufgrund der Agenda 2010 ein Teil der Sozialdemokratie als Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) von der Sozialdemokratie abspaltete, und später mit der PDS zur Linken fusionierte. Danach war Die Linke dann im Osten Volkspartei und den alten Bundesländern eine Sozialstaats- und Protestpartei (Scharenberg: 2008).
Der größte Wahlerfolg war der Linken bei der Bundestagswahl 2009 beschieden. Hier könnte sie mit über 12% triumphieren und im Kontext der Wirtschafts- und Finanzkrise mit der klaren, teils linkspopulistischen Kampagne (vgl. Müller: 2016) „Wir zahlen nicht für eure Krise“ punkten. Danach aber wurden die Ergebnisse auf Bundesebene schlechter, und mit Ausnahme der Stadtstaaten, Hessen und Saarland gelang auch der Wiedereinzug in die Landtage nicht.
2012 war die Partei innerlich sehr gespalten, und beim Bundesparteitag in Göttingen wurde eine neue Führung mit Katja Kipping und Bernd Riexinger gewählt. Diese wird nicht noch einmal antreten, weshalb die Zukunft der Partei personell unklar. Die Linke ist zumindest auf Bundesebene fest im Parteienspektrum etabliert, aber sie hat in Ostdeutschland (mit der Ausnahme Thüringens) deutlich an Zuspruch verloren, und der Parteiaufbau im Westen stagniert.
Das Protestwählerproblem der Linken, insbesondere im Osten
Gerade die PDS wurde in erheblichem Maße auch von Protestwählerinnen und Protestwählern gewählt. Diese wählten die Partei sowohl aus antikapitalistischem Protest, als auch aus genereller Unzufriedenheit über die politischen Verhältnisse. In der Rhetorik Gregor Gysis kam dies auch immer mal wieder zum Ausdruck, denn er sagte, dass eine Stimme für die PDS bzw. die Linke das ist, was für die anderen Parteien sowie das Establishment ein politisches Signal ist. Jetzt aber lässt sich feststellen, dass der Protest in erheblichem Maße nach rechts gewandert ist, zur AfD (Lederer/Miemiec: 2016).
Da AfD inszeniert sich auch ganz bewusst als Dagegen-Partei, sie polemisiert und polarisiert, und sieht sich selbst auch als Systemopposition (Fuchs/Middelhoff: 2019). Dies ist mittlerweile für Die Linke nicht mehr gegeben, die ja in Thüringen den Ministerpräsidenten stellt und mehrfach mitregiert (hat). Im Selbstverständnis insbesondere des linken Teils der Linken ist sie nach wie vor eine Protestpartei, wird aber von den Wählerinnen und Wählern kaum mehr als solche wahrgenommen.
Die Grünen als (neue) Konkurrenten
Die Wählerschaft der Linken hat sich im Laufe der Zeit verändert. Insbesondere nach dem langen Sommer der Migration 2015, als Die Linke als einzige Partei für offene Grenzen optiert hat, bekam sie einiges an Zuspruch von jüngeren, urbanen und gebildeten Wählerinnen und Wählern. Genau in dieser Zielgruppe sind allerdings auch die Grünen stark. Das Problem für Die Linke war und ist, dass sie in Fragen der Migration als uneinheitlich und damit auch inkonsequent wahrgenommen wird. Gerade auch Äußerungen der ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht waren für einige der neuen Wählerinnen und Wähler eine inhaltliche Zumutung. Und obwohl die Grünen in Landesverantwortung auch nicht immer weltoffen gehandelt haben, wird ihnen diese stärker zugeschrieben. Dadurch ging aber die Strategie der Linken, nämlich Verluste im Osten und bei manchen Protestwählern durch neue, urbane Wählerschichten zu kompensieren, nicht auf. Dies aber führt jetzt zu der Situation, dass die Grünen von links regelmäßig attackiert werden, obgleich sie Teil der einzigen Machtoption der Linken sind, nämlich rot-rot-grün.
Der Demographiefaktor, an der Wahlurne und in der Mitgliedschaft
Parteien leben von ihren Mitgliedern und deren Engagement, aber auch von ihren Stammwählerinnen und Stammwählern. Für Die Linke in Ostdeutschland besteht das Problem, dass beide immer älter werden. Dadurch hat die Partei nicht mehr eine solch breite gesellschaftliche Verankerung wie einst die PDS. Auch ein aktives Parteileben sowie ein engagierter Wahlkampf ist bei einem Durchschnittsalter von über 68 Jahren schwer realisierbar. Und es kommt somit automatisch zu einem Mitglieder- und Beitragsschwund, welcher es erschwert, an frühere politische Kampagnen und Wahlerfolge anzuknüpfen.
Es sind andererseits aber auch viele verlässliche Stammwählerinnen und Stammwähler gestorben. Im Vergleich dazu ist die Zahl der Jungwählerinnen und Jungwähler nicht so hoch. Der alte Grundsatz, dass die Jugend rebellisch und eher links ist, findet sich so heute nicht mehr.
Dauerhafte inhaltliche Konfliktlinien
Es gibt bestimmte Themen, die in der Linken kontinuierlich hervortreten und für innerparteilichen Streit sorgen, der gern auch erbittert und öffentlich ausgetragen wird. Die erste Frage ist die, ob und vor allem unter welchen Bedingungen regiert werden soll. Hierbei wird die Diskussion oft anhand so genannter roten Haltelinien geführt. Hierzu gehört, keinem Kampfeinsatz der Bundeswehr zuzustimmen, ebenso keinerlei Kürzungen im Sozialbereich. Dies sichert natürlich die eigene Glaubwürdigkeit, wirft aber die Frage auf, ob sich eine Stimme für Die Linke dann eben in tatsächlicher Politik niederschlagen wird.
Die Außenpolitik ist ein zweites inhaltliches Streitthema. Es geht hier sowohl um die Bewertung der Europäischen Union als auch die Frage nach der Notwendigkeit des Austrittes Deutschlands aus der NATO. Die Uneinigkeit ist natürlich in der Außendarstellung problematisch, und bestimmte linke Positionen sind auch für potenzielle Koalitionspartner nicht akzeptabel.
Ein drittes Streitthema ist das Bedingungslose Grundeinkommen. Dies wurde und wird diskutiert, und es finden sich beide Positionen prominent vertreten. Lange wurde die Entscheidung hinausgezögert, aber jetzt soll es hier zumindest einen Mitgliederentscheid geben.
Für 2021 ist das Problem, dass solche Streits innerhalb der Linken viel stärker als in anderen Parteien nach außen dringen, und dass sie seit sehr langer Zeit ungeklärt sind. Und die Erfahrung zeigt: Zerstrittene Parteien werden nicht gewählt.
Eigene Besonderheiten, die sich zu einem Narrativ verdichten
Trotz all dieser Schwierigkeiten gibt es einige Faktoren, bei denen Die Linke tatsächlich ein Alleinstellungsmerkmal hat, und die sie zu einer politischen Erzählung zusammenführen können. Erstens, sie nimmt keine Spenden von Konzernen und aus der Wirtschaft an. Zweitens, sie ist grundlegend gegen Waffenexporte. Drittens, sie hat keinen Überwachungsmaßnahmen, welche Grund- und Bürgerrechte beschneiden, zugestimmt. Viertens, sie hat bisher keinen Einsätzen der Bundeswehr zugestimmt. Fünftens, es wurde bisher noch jede Diätenerhöhung gespendet
Daraus ergibt sich, dass sie stilistisch und programmatisch tatsächlich über Alleinstellungsmerkmale verfügt. Dadurch kann sie, gerade aufgrund der programmatischen Annäherung und häufigen Einigkeit von SPD, CDU und Grünen als Kontrapunkt auftreten, als zivile und demokratische Opposition (anders als die AfD). Allerdings stellt sich dann zunehmend die Frage, wie sie ihre eigenen Inhalte konkret durchsetzen möchte.
Grundproblem: Unklare politische Strategie
Womit die Linke, über längere Zeiträume zu kämpfen hat, ist das tatsächliche Fehlen einer erkennbaren politischen Strategie. Die frühere PDS war strategisch aufgestellt Protestpartei sowie Interessen- und Identitätspartei der Ostdeutschen und damit erfolgreich. Die Linke war in ihren Anfängen die Anti-Agenda 2010-Partei (Dörre: 2013) und die Partei, die einen „Schutzschirm für die Menschen“ forderte, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Finanzkrise 2008ff abzufedern. Seitdem aber ist diese Strategie nicht mehr erkennbar. Auf die Abwanderung der Protestwählerschaft an die AfD gab es widersprüchliche Antworten, auf die Digitalisierung und deren Folgen sehr wenige Antworten. Wie genau der Parteiaufbau West voranschreiten soll, der nach der Gründung 2007 durchaus gelang, erscheint unklar.
Die Linke wird aller Voraussicht nach demnächst als erste im Bundestag vertretene Partei eine weibliche Doppelspitze bekommen. Damit kann sie an Aufmerksamkeit und Ausstrahlung gewinnen. Sie muss es entweder schaffen, dass die Konfliktlinien nicht öffentlich so deutlich werden, oder sie endlich klären. Ansonsten wird es wirklich schwer, denn die Partei verliert im Osten und stagniert im Westen, und die 5% sind nicht mehr so weit weg, trotz des langen Umfragewunders.
Stärken:
- Wird immer noch als Anwalt der Ostdeutschen wahrgenommen
- Klar zugeschriebener Markenkern des Sozialen
- Medial präsente Politiker*innen, die über die eigene Klientel hinauswirken
- Inhaltliche Alleinstellungsmerkmale (z.B. Position zu Waffenexporten)
Schwächen:
- Starke Überalterung in ostdeutschen Landesverbänden
- Viele Konflikte dringen ungefiltert nach außen
- Unklarheit für Wählerinnen und Wähler, ob die Linke überhaupt regieren will
- Dauerhaft ungelöste programmatische Konflikte
- Über den Markenkern hinaus wenig Kompetenzzuschreibung
- Unklare Strategie
Chancen:
- Kann sich als konstruktive und vernünftige Opposition etablieren
- Aufmerksamkeit durch neues Führungspersonal
- Forderung nach sozialem Schutz und angemessener Vergütung nach Corona als Thema
- SPD lässt mit Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten Platz nach links
Risiken:
- Anhaltender innerparteilicher Streit um die Parteiführung und später die Spitzenkandidatur
- Immer wieder hervortretende inhaltliche Konflikte
- Ein Wahlkampf, in dem Sozialthemen keine große Bedeutung haben
- Fehlende Wahlkampffähigkeit aufgrund der Überalterung
Prognose: Diesmal reicht es gerade noch so, die Europawahl war ein Menetekel: 5,5%
Literatur:
Dörre, Klaus (2013). Das neue Elend. Zehn Jahre Hartz-Reformen. Blätter für deutsche und internationale Politik, 3, S. 99-108.
Fuchs, Christian/Middelhoff, Paul (2019). Das Netzwerk der Neuen Rechten. Wer sie lenkt, wer sie finanziert, und wie sie die Gesellschaft verändern. Hamburg: Rowohlt.
Köpping, Petra (2018). Ostdeutschland oder das große Beschweigen. Wie die Fehler der Nachwendezeit unsere Demokratie vergiften. Blätter für deutsche und internationale Politik, 10, S. 41-52.
Lederer, Klaus/Miemiec, Olaf (2016). Was kommt nach dem Protest? Der Aufstieg der AfD und die Krise der Linken. Blätter für deutsche und internationale Politik, 10, S. 97-104.
Müller, Jan-Werner (2016). Was ist Populismus? Ein Essay. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Scharenberg, Albert (2008). Die doppelte Linkspartei. Blätter für deutsche und internationale Politik, 5, S. 5-8.