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Analyse zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen

Die Wahl von Thomas Kemmerich von der FDP mithilfe der Stimmen der AfD stellt eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik dar. Denn erstmals wurde mithilfe einer rechtspopulistischen Partei ein Ministerpräsident gewählt. Ebenso stellt die Wahl eines Ministerpräsidenten, der noch gar keine Koalition hat, ein Novum dar, genau wie die Wahl eines Ministerpräsidenten von der kleinsten parlamentarisch vertretenen Partei. Diese Wahl soll in zehn Thesen analytisch zusammengefasst werden.

10 Thesen zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen

These 1: Der große Gewinner dieser Wahl ist die AfD, nicht die FDP.

Denn erstmals waren ihre Stimmen entscheidend für die Regierungsbildung, was ihrer Normalisierungsstrategie voll entspricht. Zudem ist ihre Taktik, die wesentlich darin bestand, eine erneute Regierung von rot-rot-grün zu verhindern, kurzfristig voll aufgegangen. Der größte Erfolg der Alternative für Deutschland ist jetzt allerdings der, dass sie jetzt ihr Narrativ eines bürgerlichen Lagers stärken kann, indem sie ihre Wahltaktik als Beitrag zur Wahl eines bürgerlichen Ministerpräsidenten deklariert. Durch die Inkaufnahme der Wahl mittels der Stimmen der AfD haben CDU und FDP dieses Narrativ faktisch und auf Handlungsebene akzeptiert.

These 2: Der mittel- und langfristige Verlierer dieser Wahl ist die CDU.

Denn wissentlich wurde eine Zusammenarbeit in Form einer Wahl mit der AfD jetzt realisiert, was dem Unvereinbarkeitsbeschluss der Bundespartei klar widerspricht. Mike Mohring, der Fraktionsvorsitzende der CDU im Thüringer Landtag, sitzt im Bundespräsidium der CDU. Daher ist dies auch ein Affront gegen die Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, der ihre politische Autorität noch weiter unterminiert. Vor allem aber ist diese Wahl ein enormes Dilemma für den politischen Konservatismus. Denn es gab und gibt einerseits, als Programmpartei, dass Ziel der Regierungsbeteiligung, andererseits aber eben auch das Ziel der politischen Stabilität. Das erste Ziel wurde erreicht, allerdings unter vollständiger Ignoranz des zweiten Zieles. Das aber ist ein großes Problem, denn Konservatismus steht antithetisch zu Chaos. Dieses ist jedoch das Ergebnis dieses Wahlaktes.

These 3: Diese Wahl ist zumindest eine mittelbare Missachtung des Wählerwillens.

Bei der Wahl ging es um den Ministerpräsidenten. Zur Wahl standen und stehen Parteien bei der Landtagswahl. Bei einer Direktwahl des Ministerpräsidenten/der Ministerpräsidentin wäre Bodo Ramelow sicher und mehrheitlich gewählt worden. Auch seine Partei hat einen relevanten Stimmenanteil wegen ihm als Person bekommen. Das bedeutet, dass es zwar keine parlamentarische Mehrheit gab, wie die ersten beiden Wahlgänge zeigen, aber durchaus eine Inputlegitimation für den bestehenden Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, die nun ignoriert wurde.

These 4: Diese Wahl war ein macchiavellistisches und nietzscheanisches Meisterstück der Beteiligten.

Denn es war eine höchst erfolgreiche Machtpolitik, die nicht nach moralischen Kriterien funktionierte, wie schon Macchiavelli es empfohlen hatte (genau wie seine Empfehlung, die schlimmsten Grausamkeiten am Anfang der Herrschaft zu begehen, auf dass sie vergessen werden). Denn dadurch, dass die FDP keinen Unvereinbarkeitsbeschluss für die Zusammenarbeit hat wie die AfD, und dadurch, dass die Aufstellung des Ministerpräsidentenkandidaten der AfD rein taktisch war, wie die Null Stimmen im dritten Wahlgang zeigen, war der Wille zur Macht, wie Nietzsche es nannte, tatsächlich unbedingt. Denn die entsprechenden politischen Schäden wurden ja in Kauf genommen.

These 5: Diese Wahl hat für DIE LINKE ambivalente Folgen.

Unmittelbar ist sie negativ, da sie ihren einzigen Ministerpräsidenten verloren hat und damit das Rollenmodell für ihre einzige realistische Machtoption, nämlich rot-rot-grün. Ebenso ist es natürlich eine politische Niederlage, dass die Regierung unter ihrer Führung abgewählt wurde. Jedoch sind Neuwahlen nicht unwahrscheinlich, wovon DIE LINKE profitieren dürfte. Ebenso hat sie politisches Kapital als glaubwürdige Maklerin gewonnen, die offen und transparent an einer Minderheitsregierung gearbeitet hat.

These 6: Die zweite große Verliererin dieser Wahl ist die Demokratie selbst.

Denn die Inputlegitimation für die neue Regierung ist nicht erkennbar. Es gibt Monate nach der Wahl, was für die Bürgerinnen und Bürger unverständlich ist, genau wie diese politische Intrige jetzt. Die Politikverdrossenheit wird zunehmen, und das Narrativ, dass Politik ein moralisch schmutziges Geschäft ist, wird nur weiter gestärkt.

These 7: Diese Ministerpräsidentenwahl ist eine vertane Chance für die Resilienzstärkung der Demokratie durch Minderheitsregierungen.

Mehrparteienkoalitionen, unübersichtliche parlamentarische Verhältnisse, lagerübergreifende Koalitionen und Parlamente mit starken Parteien sind die neue Normalität, die immer häufiger dazu führt, dass politische Mehrheitsfindungen immer schwieriger werden. Hierfür war Thüringen schon vor der Ministerpräsidentenwahl paradigmatisch. Hier hätte es jetzt die Chance gegeben, mittels einer Minderheitsregierung parlamentarisches Neuland zu betreten und damit neue Wege der Mehrheitsfindung zu ermöglichen. In Skandinavien ist dies seit Jahrzehnten eine funktionable Praxis. Wie Herr Kemmerich jetzt eine Minderheitsregierung konstituieren will, ist vollkommen unklar. Unter Herrn Ramelow hätte es dafür einen klaren Plan mittels einer Projektregierung als Minderheitsregierung gegeben.

These 8: Diese Ministerpräsidentenwahl wird zu einer Repolarisierung der klassischen politischen Lager führen.

Denn SPD, Grüne und Linke werden hier zusammengeschweißt. Sie können jetzt auch das gemeinsame Narrativ etablieren, dass mit ihnen keine Wahl mithilfe der AfD denkbar ist. Ebenso zeigen die gemeinsamen Demonstrationen eine entsprechende Annäherung. Somit kann die Ministerpräsidentenwahl Auswirkungen auf die nächste Bundestagswahl haben. Dem gegenüber haben CDU und FDP jetzt eine besondere Begründungslast, ob bzw. inwieweit sie mit der AfD Teil eines bürgerlichen Lagers sind. Denn in diesem Wahlakt waren sie es performativ. Diese Auseinandersetzungen werden anhalten.

These 9: Diese Wahl kann zu einer existenziellen Krise für die FDP werden.

Diese Wahl kann zu einer existenziellen Krise für die FDP werden. Denn die Wahl mithilfe der
AfD ist eine klare Kontradiktion zu Christian Lindners berühmtem Credo „Es ist besser, nicht zu
regieren, als schlecht zu regieren“. Auch parteiinterne Kritiken, wie jene von Gerhart Baum, sorgen für enorme Instabilität. Die FDP als im normativen Eigenanspruch liberale Partei hat jetzt das
grundlegende Problem, dass sie abhängig ist von einer illiberalen Partei wie der AfD. Ebenso
widerspricht das autoritäre Politikverständnis der AfD den Grundsätzen liberaler Politik im Sinne eines Höchstmaßes an persönlicher Freiheit und Bürgerrechten oft diametral. Dieser Widerspruch
unterminiert in der Konsequenz die Glaubwürdigkeit der FDP, ist politisch sehr inkonsistent und
abschreckend für bürgerliche Wählerinnen und Wähler. Und schon einmal, nämlich 2013, als die FDP in der Regierung ihr Versprechen von Steuersenkungen nicht einlösen konnte und damit nicht
glaubwürdig war, verlor sie ihre parlamentarische Existenz.

These 10: Für die Grünen ist diese Ministerpräsidentenwahl polyvalent.

In der aktuellen Situation wurde klar erklärt, dass rot-rot-grün fortgesetzt werden soll. Dies wurde klar eingehalten. Sollte es zu Neuwahlen kommen, würde die bisherige Regierungspartei DIE LINKE stark profitieren, was die Grünen unterhalb der 5%-Hürde bringen könnte, die sie jetzt nur schon knapp überschritt. Bundespolitisch wird den Grünen diese Wahl sogar eher nützen, denn sie werden als klarster Gegenpol gegen die AfD wahrgenommen. Dieser Dammbruch wird Ängste vor dem Rechtspopulismus weiter schüren, was Mitte-Links wohl am meisten bei den Grünen auszahlt. Vor allem bürgerliche Wählerinnen und Wähler, die zwischen Grüne und CDU schwanken, haben jetzt ein Argument mehr für die Wahl der Grünen. Allerdings werden Koalitionen mit der CDU, die angesichts der historischen Schwäche der Sozialdemokratie immer öfter unumgänglich sind, jetzt deutlich schwerer kommunizierbar. Denn als Partei, die für Weltoffenheit, Minderheitenschutz und eine liberale Gesellschaft steht, ist eine Koalition mit einer Partei, welche mit der AfD gemeinsame Sache macht, schwer erklärlich, gerade nach innen.

Die Wahl in Thüringen hat die ohnehin hohe politische Komplexität nur noch weiter gesteigert und die politische Instabilität drastisch erhöht, mit teils unabsehbaren mittel- und langfristigen Konsequenzen.