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Wahlanalyse zur Hamburger Bürgerschaftswahl am 23.02.2020 in zehn Thesen

1. In Hamburg setzt sich der Trend fort, dass die Parteien der Großen Koalition, also die ehemaligen Volksparteien, bei Landtagswahlen an Rückhalt verlieren (Giebler/Lacewell/Regel/Werner: 2015).

Hierbei waren die Verluste der SPD sogar doppelt so groß als jene der Union. Der Trend, dass also die Große Koalition den involvierten Parteien bei Landtagswahlen schadet, setzt sich weiter fort. Jedoch führt dies nicht zu krisenhaften Erscheinungen der Regierungsbildung oder der Demokratie insgesamt (Merkel: 2015), da in Hamburg, anders als in Thüringen, nach wie vor sehr stabile politische Verhältnisse gegeben sind.

2. Trotz dessen, dass die SPD sogar die prozentual stärksten Verluste aller Parteien verbuchen musste, ist sie die Gewinnerin dieser Wahl.

Denn in Hamburg liegt sie fast dreimal so hoch wie auf der Bundesebene. Sie konnte mit 15% Abstand die zweitplatzierten Grünen klar deklassieren und ihre politische Vormachtstellung behaupten. Dies ist eine Singularität im gesamten politischen Deutschland und wird das sozialdemokratische Modell des Hamburger Landesverbandes sowie die politischen Ambitionen von Olaf Scholz als wesentlichem Protagonisten des Hamburger Modells der Sozialdemokratie weiter stärken. Dieses besteht in der Verknüpfung aus pragmatischer Wirtschaftspolitik mit dem Bestreben, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und die Weltoffenheit Hamburgs zu bewahren. Dieser Kurs, der konsistent verfolgt wird und eine klare politische Erzählung beinhaltet, ermöglicht es der SPD, auch bis weit in bürgerliche Wählerschichten auszustrahlen und damit Ergebnisse zu erzielen, die auf Bundesebene völlig außer Reichweite sind, da dieser eben eine klare Erzählung fehlt (Butzlaff/Pausch: 2019).

3. Es bestätigt sich der Trend der vorherigen Landtagswahlen, dass die jeweiligen Amtsinhaber gestärkt werden, und zwar insbesondere von älteren Wählerinnen und Wählern.

Die 59% für die SPD bei den Wählern über 70 sind hierbei schon ein sensationell hoher Wert. Sie zeigen aber rein demografisch auch klar an, dass solche hohen Ergebnisse wie jetzt für die Sozialdemokratie keine Selbstverständlichkeit sind. Zudem weist der Trend für die SPD gerade in längerer Perspektive auch in Hamburg nach unten, denn vor einer Dekade konnte sie noch die absolute Mehrheit erringen. Ihre Wählerdemografie macht einen weiteren künftigen Stimmenrückgang wahrscheinlicher.

4. Die Grünen sind ein klarer Wahlsieger in Hamburg.

Sie haben ihre Stimmenanzahl im Vergleich zur letzten Wahl verdoppelt und damit deutlich an politischem Gewicht gewonnen und ihren Anspruch auf eine weitere Regierungsbeteiligung untermauert. Sie sind jetzt ein Machtfaktor in dieser Stadt (vgl. Olschanski: 2020). Bei den jüngeren Wählerinnen und Wählern hat sie einen Zuspruch von 35% bekommen.

Nach wie vor sind die Grünen, wie bei fast allen anderen Wahlen auch, in den Zentren der Stadt deutlich stärker als am Stadtrand. Diese politische Unterscheidung zwischen Stadt und eher ländlichen Gegenden, die zunehmend virulent wird (Koppetsch: 2019), sie wirkt sich auch innerhalb einer Stadt aus. Und sie behindert nach wie vor eine urbane grüne Vormachtstellung.

5. Für die Christlich-Demokratische Union war diese Wahl eine erwartbare Niederlage.

Neben dem ohnehin ungünstigen bundespolitischen Rückenwind kam jetzt noch das wenig konsistente Verhalten unmittelbar vor der Wahl in Thüringen hinzu (vgl. von Lucke: 2019), sowie das zunehmende Führungsvakuum innerhalb der CDU, welches ihren Eigenanspruch von Stabilität konterkariert. Dadurch, dass es im Wahlkampf eine Zeit lang so aussah, als würde die Sozialdemokratie und und die Grünen Platz 1 unter sich ausmachen, wurde die CDU für viele Wählerinnen und Wähler dethematisiert. Jedoch fügt sich dieses Ergebnis trotz der Ereignisse in Thüringen in den Trend ein, dass die CDU ein besonderes Großstadtproblem hat und urbane Wählerinnen und Wähler immer weniger erreicht. Dies zeigt sich schon daran, dass sie keine der zehn größten deutschen Städte mehr regiert.

6. Für Die Linke war die Hamburg-Wahl durchaus auch ein Erfolg.

Denn sie hat absolut und relativ gewonnen und sich stabilisiert. Neben den Grünen war sie die einzige Partei, die überhaupt relative Zugewinne verzeichnen konnte. Ihr half die mediale Zuschreibung, das soziale Gewissen der Stadt und damit eine legitime Oppositionskraft zum rot-grünen Senat zu sein, während ihr die Vorgänge um den rechtsoffenen Listenkandidaten Tom Radtke schadete. Im Vergleich zu anderen jüngsten Landtagswahlen, welche für Die Linke desaströs endeten, war diese Landtagswahl ein Erfolg. Und sie zeigt, dass sie sich dauerhaft zumindest in den westdeutschen Stadtstaaten etabliert hat. Was sich allerdings auch zeigt, ist, dass der frühere Trend, nach Verluste der Sozialdemokratie zu Gewinnen links führen, sich erneut nicht. Denn die SPD hat wesentlich an die Grünen und kaum an Die Linke verloren.

7. Für die FDP war diese Landtagswahl eine vermeidbare und klare Niederlage.

Vor fünf Jahren begann in Hamburg die Renaissance der FDP. Jetzt könnte dieses Ergebnis den Beginn einer weiteren Zeit bedeuten, in der die FDP um ihre parlamentarische Existenz kämpfen muss. Das Ergebnis war der Liberalen war vor allem ein Denkzettel für die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen. Die FDP hat jedoch traditionell eine gewisse Offenheit nach Rechts (Frei/Morina/Maubach/Tändler 2019: 23-24), daher wird die Zukunft zeigen, ob dies ein einmaliger Ausrutscher war. Gerade in einer Stadt wie Hamburg, wo ein Gefühl von Weltoffenheit und das Selbstverständnis, das Tor zur Welt zu sein, konstitutiv ist, rächen sich solche Fehler natürlich sofort.

8. Hochinteressant ist, dass die Alternative für Deutschland (AfD) in Hamburg um ihre parlamentarische Existenz bangen musste.

Denn offenkundig zeigt sich in der Politik der Hansestadt, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit rechtspopulistische Politik nicht reüssiert. Wesentliche Gründe für die Wahl autoritärer und rechtspopulistischer Parteien sind Gefühle sozialen Ausschlusses, politischer Ohnmacht sowie ökonomischer Abstiegsängste (Heitmeyer: 2019). Ebenso sind traditionell die abstiegsbedrohten Mittelschichten sehr empfänglich für rechtspopulistische Politikangebote (Koppetsch: 2019; Decker/Brähler: 2018; Bauman: 2016). Hamburg ist jedoch sehr wohlhabend, und offenkundig scheinen die Menschen hier mehrheitlich auch an zukünftigen Wohlstand, Teilhabe und soziale Sicherung zu glauben (daher ja auch 2/3 Zustimmung zur Politik des Senates). Genau dann aber verfängt der rechtspopulistische Politikansatz nicht, welcher mit Migrationsängsten und permanenter Kriseninszenierung arbeitet (Fuchs/Middelhoff: 2019; Hillje: 2018; Bednarz/Giesa: 2015). Unaufgeregtheit, das Funktionieren der Politik und Normalität scheinen Rezepte zu sein, welche das Politikmodell der AfD an seine Grenzen bringen.

9. Hamburg hat erneut aufgezeigt, dass in den Großstädten das Mitte-Links Lager deutlich stärker ist.

Allerdings sind die 72%, welche SPD, Grüne und Linke zusammen bekamen, tatsächlich sehr viel, und hier haben sicher sowohl die Ereignisse in Thüringen als auch der Mordanschlag in Hanau auf den letzten Metern des Wahlkampfes nach links mobilisiert. Jedoch sind die Hamburger Verhältnisse sehr spezifisch, und das Mitte-Links-Lager wird sich ja dann aufteilen in zwei Regierungsparteien und eine Oppositionspartei. Denn alles Andere als eine Fortsetzung von rot-grün wäre eine enorme Überraschung und kommunikativ kaum bis gar nicht vermittelbar nach diesem Wahlergebnis.

10. Der Personenfaktor war erneut ein wichtiger Einflussfaktor für das Endergebnis.

Die Personalisierung der Politik (Bein: 2018; Crouch: 2008) war auch in diesem Bürgerschaftswahlkampf klar erkennbar. Denn Peter Tschentscher hat es vermocht, für 40% der Wählerinnen und Wähler ausschlaggebend für ihr Wahlverhalten zu sein, während dies Katharina Fegebank deutlich weniger gelang. Daraus ergibt sich, dass die Stimmen für die SPD sowohl mit der Parteipräferenz als auch dem Kandidaten zusammenhängen, während die Stimmen der Grünen sich wesentlich aus der parteipolitischen Präferenz ergeben haben. So ist auch erklärlich, dass am Ende im Ergebnis die beiden Parteien, welche in den Januar-Umfragen noch Kopf an Kopf lagen, am Ende doch 12 Prozent auseinanderlagen. Jedoch zeigt die diametrale Demografie der Wählerschaft beider Parteien, dass bei einer zukünftigen Bürgerschaftswahl die Grünen gute Chancen haben, den schon für dieses Mal anvisierten ersten Platz tatsächlich zu realisieren.

Literatur:

Bauman, Zygmunt (2016). Die Welt in Panik. Wie die Angst vor Migranten geschürt wird. Blätter für deutsche und internationale Politik, 10, S. 41-50.

Bednarz, Liane/Giesa, Christoph (2015). Gefährliche Bürger. Die neue Rechte greift nach der Mitte. München: Hanser.

Bein, Simon (2018). Von der Demokratie zur Postdemokratie? Zeitschrift für Politische Theorie, 1, S. 51-72.

Butzlaff, Felix/Pausch, Robert (2019). Partei ohne Erzählung: Die Existenzkrise der SPD. Blätter für deutsche und internationale Politik, 8, S. 81-87.

Crouch, Colin (2008). Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Decker, Oliver/Brähler, Elmar (2018). Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Gießen: Psychosozial Verlag.

Frei, Norbert/Morina, Christina/Maubach, Franka/Tändler, Maik (2019). Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus. Berlin: Ullstein

Fuchs, Christian/Middelhoff, Paul (2018). Das Netzwerk der neuen Rechten. Wer sie lenkt, wer sie finanziert und wie sie die Gesellschaft verändern. Hamburg: Rowohlt.

Giebler, Heiko/Lacewll, Onawa/Regel, Sven/Werner, Annika (2015). Niedergang oder Wandel? Parteitypen und die Krise der repräsentativen Demokratie. In Merkel, Wolfgang (Hg.). Demokratie und Krise. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften: S. 181-220.

Heitmeyer, Wilhelm (2019). Die autoritäre Versuchung. Signaturen der Bedrohung. Berlin: Edition Suhrkamp.

Hillje, Johannes (2018). Propaganda 4.0. Wie rechte Populisten Politik machen. Bonn: Dietz.

Koppetsch, Cornelia (2019). Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. Bielefeld: Transcript Verlag.

Merkel, Wolfgang (2015). Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Olschanski, Reinhard (2020). 40 Jahre Grüne: Ökologie als Menschheitsthema und Machtfaktor. Blätter für deutsche und internationale Politik, 1, S. 74-85.

Von Lucke, Albrecht (2019). Thüringen als Menetekel: Wie man aus Rechtsradikalen Bürgerliche macht. Blätter für deutsche und internationale Politik, 12, S. 5-8.