Stärkste Kraft und Selbstverständnis als natürliche Regierungspartei
Die Christlich-Demokratische Union (CDU) und die Christlich-Soziale Union (CSU) sind zwar formal zwei getrennte Schwesterparteien, werden aufgrund ihrer seit Jahrzehnten währenden Fraktionsgemeinschaft hier als eine Partei betrachtet. Sie sind entstanden aus der katholischen Zentrumspartei und sind heute überkonfessionelle, bürgerliche Volksparteien der Mitte.
Zu Beginn der Bundesrepublik war die CDU die Partei sowohl der politischen Mitte als auch der alten Rechten, und sie hat gerade nach der Auflösung der Deutschen Partei (DP) diese relativ erfolgreich ins demokratische Spektrum geführt (Frei/Morina/Maubach/Tändler: 2019). In der Geschichte der Bundesrepublik stellte die Union die meiste Zeit den Kanzler bzw. die Kanzlerin, und daraus erwächst auch ein Selbstverständnis als Regierungspartei. Daraus leitet sich auch ein starker, teils unbedingter Machtanspruch ab, und der Union wird von den Wählerinnen und Wählern auch stärker als anderen Parteien eine entsprechende Regierungskompetenz zugeschrieben.
Die erste Wahl nach Merkel
Angela Merkel hat die Union zur Jahrtausendwende übernommen, nach der Abwahl aus der Bundesregierung und der Parteispendenaffäre 1999. Anfangs unterschätzt, zeigte sie besonderen Machtinstinkt, ließ Edmund Stoiber 2002 den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur, um dann 2005 selbst Kanzlerin zu werden. Das Kanzleramt verteidigte sie dreifach. Besonders eindrucksvoll war ihr Wahlsieg 2013, bei dem die Union an alte Höchstmarken der Zustimmung anknüpfte, und zu dem ein effektvolles „Sie kennen mich“ im TV-Duell beitrug.
Genau das aber ist der Unterschied dieser Bundestagswahl. Bei Angela Merkel weiß man für gewöhnlich, welche Politik erwartbar ist. Sie gilt schon jetzt als die Kanzlerin, die mehrere Krisen bewältigt hat (Wirtschafts- und Finanzkrise 2008ff, Flüchtlingskrise 2015, Coronakrise 2020), aber der visionäre oder pathetische Politik nahezu vollkommen abgeht. Jedoch wird die Union und wurde Merkel stark wegen des Wunsches nach Sicherheit und Beständigkeit gewählt (von Lucke: 2020), aber auch aus einem grundlegenden, über Jahre eingeschliffenen Gefühls, dass die Kanzlerin die Dinge schon irgendwie bewältigen wird, ohne genauer hinzuschauen, was sie dort tun.
Jetzt aber ist, und das ist ebenfalls ein Novum, nicht klar, wer für die Union ins Kanzleramt einziehen soll. Jedoch gehört zum konservativen Bedürfnis nach Sicherheit auch eine entsprechende Gewissheit, was die Lage für die Union erschwert. Hinzu kommt, dass es explizite Merkel-Wähler und vor allem Merkel-Wählerinnen gab, also Menschen, die ihr als Person und/oder Politikerin vertrauten, und explizit wollten, dass sie Kanzlerin bleibt. Ob die Union diese Wählerinnen und Wähler erneut an sich binden kann, erscheint fraglich.
Coronakrise als Zwischenrenaissance
Innerhalb der dritten Großen Koalition der letzten fünf Jahre hat die Erosion der Volksparteien (Merkel: 2015) auch die Union erfasst, und nicht mehr nur die SPD. Denn im Herbst letzten Jahres war auch die Union deutlich abgestürzt, nämlich auf 26% in den Umfragen. Das Europawahlergebnis hat sich auch in dieser Region bewegt.
Der jetzige Aufschwung hat vorwiegend etwas mit der zugeschriebenen Regierungs- und Krisenkompetenz, aber eben auch der Kanzlerin Merkel zu tun. Diese hat diesmal ihre Politik gut erklärt und das Land souverän durch die Coronakrise geführt. Gerade auch ihre persönlichen Beliebtheitswerte sind auf alte Höchststände zurück geklettert. Jedoch hat die Kanzlerin ganz eindeutig erklärt, dass sie nicht noch einmal antritt. Und in der Zeit der Coronakrise war die Frage nach den Inhalten der Union, nach ihrer konkreten Policy, in den Hintergrund gerückt. Wenn diese Frage aber wieder stärker gestellt werden wird, dann dürften hier programmatische und inhaltliche Defizite wieder offenkundiger werden.
Die ungelöste und knifflige K-Frage
Eines der Hauptprobleme der Union, welches sich jetzt noch einmal dringender stellt, ist die ungeklärte Personalfrage. Nachdem Annegret Kramp-Karrenbauer sich in einer Kampfkandidatur um den Parteivorsitz gegen Friedrich Merz durchgesetzt hatte, schien es so, als sei die Personalfrage entschieden. Jedoch hat sie sich nicht profilieren können, sich auch nie die nötige Autorität erarbeiten können, was insbesondere nach der Thüringen-Wahl und den waghalsigen Alleingängen des dortigen Landesverbandes (trotz ihrer Intervention) offenkundig wurde (von Lucke: 2019).
Nun ist sowohl die Frage des Parteivorsitzes als auch die Frage der Kanzlerkandidatur unentschieden. Für Friedrich Merz ist es aus Altersgründen die definitiv letzte Chance, weshalb er erbittert darum kämpfen wird. Armin Laschet hat durch seine teils inkonsistente und unsouveräne Corona-Krisenpolitik in NRW viele Chancen verspielt. Norbert Röttgen hat keine wirkliche Chance. Es sah in der Krise so aus, als wäre Markus Söder als oberster Corona-Bekämpfer jetzt, trotz seines CSU Parteibuches, in die Rolle des Favoriten um die Kanzlerkandidatur geschlüpft (von Lucke: 2020). Jedoch hat ihm jetzt der Kampf um die nicht durchgeführten Coronatests des DRK in Bayern massiv geschadet.
Dass die Personalfrage ungeklärt ist, erscheint gerade für die Union als eine besondere Schwierigkeit. Denn gerade die Union, die Einigkeit in der Personalfrage, gibt es erkennbar nicht. Wählerinnen und Wähler der Union wollen Gewissheit und Verlässlichkeit, und die haben sie gerade in einer so wichtigen Frage wie der, wer das Land führen soll, gerade nicht. Dieses Problem verschärft sich durch die frühe und einmütige Festlegung der SPD auf Olaf Schulz, und die K-Frage birgt massives Konfliktpotenzial für die kommenden Wochen und Monate.
„Rechts von der CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben“
Franz-Josef Strauß, der legendäre bayrische Ministerpräsident, hat einst den prägnanten Satz gesagt: „Rechts von der CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben“. Dieser Satz gehörte und gehört zum Selbstverständnis der Union. Bis zur Bundestagswahl 2017 ging dieses Diktum von Franz-Josef Strauß auch vollkommen auf. Die Union hat es lange Zeit vermocht, sowohl christliche-konservative als auch wirtschaftsliberale als auch nationalkonservative Wählerinnen und Wähler anzusprechen. Gerade darin lag immer auch ihr Charakter als Volkspartei.
Mit dem Aufkommen der AfD hat sich diese Situation komplett verändert, und natürlich hat die Union einen signifikanten Anteil an der Entstehung der Alternative für Deutschland (Hebel: 2017). Es war für Deutschland ein Epochenbruch und eine historische Zäsur, dass es eine Partei rechts der Union im Bundestag gab. die sich ja bewusst als Partei rechts der Union gegründet hat (Lewandowski/Giebler/Wagner: 2016).
Die Union tut sich bis heute schwer im Umgang mit der AfD. Sie hat sich Anfangs in Dethematisierung geübt, was nicht aufging. Gerade die CSU hat es einige Zeit damit versucht, sowohl die Themen als auch das Wording zu übernehmen, um damit die Wählerinnen und Wähler zu binden. Doch auch das hat nicht funktioniert, denn es gilt immer noch die alte politische Weisheit: Im Zweifel wird immer das Original gewählt.
Der Unvereinbarkeitsbeschluss der Zusammenarbeit zwischen CDU und AfD wird immer wieder nur mit Mühe aufrechterhalten. Und so, wie die Union die SPD regelmäßig mit der Frage nach ihrem Verhältnis zur Linken traktiert hat, muss sich jetzt die Union unangenehme Fragen zu ihrem Verhältnis zur AfD stellen. Auch das kann ihr schaden bei der Bundestagswahl. Und sie hat schlicht einen Teil ihres Wählerklientels, nämlich dezidiert Konservative und Nationalkonservative, an die AfD verloren.
Programmatische und andere Probleme der CDU
Die Union versteht sich nicht als Programmpartei, und für sie ist zumeist die Führung der Regierung wichtiger als der konkrete Inhalt. Daraus ergeben sich aber inhaltliche Unschärfen, und in bestimmten Politikfeldern wie der Digitalisierung wird der Union inzwischen kaum noch Kompetenz zugeschrieben. Dies hat auch mit dem sehr unsouveränen Umgang mit dem Video des Youtubers Rezo „Die Zerstörung der CDU“ zu tun.
Ebenso ist die Union im Kern eine Partei älterer Herren. Dies wurde lange Zeit durch Angela Merkel überdeckt. Gerade aber, wenn sich die Union für Friedrich Merz und damit für einen klassischen, kantigen Konservatismus entscheidet, ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass sie neu gewonnene Wählerinnen und Wähler, insbesondere Frauen, an die Grünen und in Teilen an die SPD verlieren wird.
Stärken
- Unbedingter Machtwille
- Zugeschriebene Regierungskompetenz
- Breite Mitgliederbasis
- Hoher Zuspruch bei älteren Wählerinnen und Wählern
- Erfolge des Koalitionspartners als eigene Erfolge verkaufen
- Ansehen Merkels als Bundeskanzlerin
Schwächen
- Schwach bei Jüngeren und in den Städten
- Unklare Strategie im Umgang mit der AfD
- Unklare Programmatik
- Einige Fehlbesetzungen im Bundeskabinett (Scheuer, Karliczek, Seehofer)
- Kein souveräner Umgang mit Kritik (siehe Rezos „Die Zerstörung der CDU“)
- Ungeklärte Führungsfrage
Chancen
- Mit einer dezidiert konservativen Programmatik Wählerinnen und Wähler der AfD zurückgewinnen
- Dass der Streit innerhalb der AfD für viele ehemalige CDU-Wähler abschreckend ist
- Nach wie vor schwierige politische Situation, in der die zugeschriebene Regierungskompetenz für viele wahlentscheidend ist
- Durch anderen Sound und Ansprache Menschen wieder neugierig auf die CDU und den Kandidaten machen
- Erfolge der Coronakrise in eine konsistent konservative Erzählung einbetten (Sicherheit, Schutz der Schwachen, staatliche Handlungsfähigkeit)
Risiken
- Verlust erheblicher Teile der Merkel-Wählerinnen und -wähler
- Tiefe innerparteiliche Gräben bei der Frage der Kanzlerkandidatur
- Nichtakzeptanz der neu gewählten Parteiführung
- Rasches Ende der „Stunde der Exekutive“
- Fehler, die der Kandidat noch bis zur Wahl macht (wie jüngst Söder mit dem DRK)
Prognose: Die Union verteidigt das Kanzleramt und wird stärkste Kraft, aber nur mit 32%
Literatur:
Frei, Norbert/Morina, Christina/Maubach, Franka/Tändler, Maik (2019). Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus. Berlin: Ullstein Verlag.
Hebel, Stephan (2017). Angela Merkel: Die Geburtsthelferin der AfD. Blätter für deutsche und internationale Politik, 8, S. 81-89.
Heitmeyer, Wilhelm (2018). Die autoritäre Versuchung. Signaturen der Bedrohung. Berlin: Edition Suhrkamp.
Lewandowsky, Marcel/Giebler, Heiko/Wagner, Aiko (2016). Rechtspopulismus in Deutschland. Eine empirische Einordnugn der Parteien zur Bundestagswahl 2013 unter besonderer Berücksichtigung der AfD. Politische Vierteljahresschrift, 2, S. 247-275.
Merkel, Wolfgang (20159. Die Herausforderungen der Demokratie. In Merkel, Wolfgang (Hg.). Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Von Lucke, Albrecht (2020). Die Corona-Wende: Markus Söder ante portas. Blätter für deutsche und internationale Politik, 7, S. 97-105. Von Lucke, Albrecht (2019). Thüringen als Menetekel: Wie man aus Rechtsradikalen Bürgerliche macht. Blätter für deutsche und internationale Politik, 12, S. 5-8